Enderal:Der Schlächter von Ark, Buch 10: Der Fall

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Der Schlächter von Ark, Buch 10: Der Fall

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Literatur Der Schlächter von Ark, Buch 10: Der Fall
Daten
Gewicht Gewicht
1
Wert Wert
40
Autor
Jaél Gerbersohn
Bemerkungen
-




Der Schlächter von Ark, Buch 10: Der Fall ist ein Buch in Enderal – Die Trümmer der Ordnung.

Digitale Version

Eine digitale Version könnt ihr auf der Website von SureAI finden - Der Schlächter von Ark, Buch 10: Der Fall

Fundorte

  • 1 Exemplar könnt ihr finden, wenn ihr vom Nordwindlager aus nach Nordwesten geht, und der Straße ins "Nichts" folgt. Dort müsst ihr einen Gegner "Der Koloss" besiegen, sowie einige magische Irrlichter. Geht ihr danach weiter nach Nordwesten, findet ihr ein Skelett, und daneben liegt das gesuchte Buch.


  • 1 Exemplar könnt ihr desweiteren in der Festung Felsenwacht finden. Dort ist es auf der linken Seite und liegt auf einem Ausstellungsständer für Bücher.

Inhalt

Kapitel 10: Der Fall

Einen Moment lang sah ich nichts. Dann klärte sich meine Sicht wieder, und ich fühlte, wie das Feuer meine Adern begann zu füllen. Auf einem Auge sah ich die Realität, wie ich auf der Bettkante saß, den blutverschmierten Dolch immer noch im Körper meines Opfers, das sich schwach zuckend in seinen Todeskrämpfen befand. Seine Sicht war verwaschen und eingeschränkt, gleich die eines Mannes, der durch ein Schlüsselloch in einen anderen Raum späht. Was ich mit dem anderen Auge hingegen sah, war klarer. Seine Gedanken. Seine Erinnerungen. Ich sah einen Gang, der mit roten Teppichen ausgelegt war. Es war der, den ich soeben noch durchschritten hatte, um in Mitumials Zimmer zu gelangen. Aus seinem Zimmer hörte ich Schluchzer. Ich tat einen Schritt in seine Richtung und hörte eine Stimme aus dem Nichts. Sie war hart, kalt, und ohne Liebe. "Du bist nutzlos." Ich spürte, dass sie zu Mitumials Vater gehörte, der vor kurzer Zeit erst gestorben war.
Ich ging weiter. Das Schluchzen wurde lauter und mischte sich mit Schreien.
Ein Ruck durchfuhr mein spektrales Ich, und katapultierte mich in eine andere Erinnerung. Ich sah ihn, siebzehn Winter alt, an einem großen, mit allerlei Speisen gedeckten Tisch sitzen. Sein Kopf war gesenkt. Am anderen Ende des Tisches saß sein Vater, dessen Gesicht mir bekannt vorkam. Eine Frau saß an seiner Seite, deren Augen verträumt und anteilnahmslos in die Leere schauten.
"Diese Welt ist kein Ort für Schwächlinge. Was ist daran so schwer zu verstehen?"
"Nichts, Vater." Mitumials Stimme war monoton.
"Scheinbar doch. Ansonsten würdest du dich nicht aufführen wie ein verdammtes Waschweib."
Das Bild wurde schwarz, und ich befand mich wieder auf dem Gang. Die Schreie begannen sich nun zu mehren. Ich tat einen weiteren Schritt in Richtung seines Zimmers. Einen weiteren. Und einen weiteren. Dann: Eine neue Erinnerung. Diesmal sah ich Mitumial vor einer Tür stehen, den Rücken ihr zugewandt. Er schien zu lauschen. Ein Mann und eine Frau befanden sich dahinter, und sie schrien, der Mann wutentbrannt und die Frau flehend. Die männliche Stimme gehörte Mitumials Vater. Immer wieder war ein dumpfer Aufprall zu hören. Ich musste die Szene nicht sehen, um sie zu verstehen, und Mitumial genausowenig. Sein Gesicht war eine Fratze aus Abscheu und Zorn. Er verachtet ihn für das, was er seiner Mutter antut. Er verachtet ihn für seine Taten. Ich war wieder in dem Gang, vor der Tür zu Mitumials Zimmer angekommen. Das Feuer brannte gierig und grell in mir, aber das berauschende Gefühl, dass es durch meine Adern sandte, fühlte sich falsch an. Ich hätte triumphieren sollen, aber stattdessen fühlte ich mich ... schuldig. Leer. "Nein", flüsterte ich stimmenlos. Er hat getötet. Er hat die Dämonen in sich gelassen, und das ist seine gerechte Strafe.
Die Tür in Mitumials Erinnerung schwang auf und ich trat ein. Das Zimmer war ähnlich verwüstet wie das, in dem sich mein tatsächliches Ich mit seinem sterbenden Körper befand, aber diesmal waren die herabgerissenen Laken, die durch die Gegend geschleuderten Bücher und der umgestürzte Tisch die stummen Zeugen eines Wutausbruchs gewesen. Wut. Oder Verzweiflung? Mitumial kauerte auf seinem Bett, bartlos und gepflegt, ganz und gar nicht der Mann, in dessen Kehle ich soeben einen Dolch getrieben hatte. Tränen trockneten auf seinen Wangen, Tränen, für die sein Vater ihn stets - ich wusste es - gerügt und ein Weib geschimpft hatte. Jetzt waren seine Augen getrocknet und gerötet, und seine Augen schienen ins Nichts zu starren. Er war gebrochen. Wieso sehe ich das? Ich verstand nichts von dem, was um mich geschah. Was ich zu sehen hatte, waren seine Sünden, die Momente in denen er die Dämonen in sich gelassen hatte. In denen er schwach gegeben hatte, und Sünde und Gier über Standhaftigkeit und Tugend gewählt hatte. Die Momente, die ihn zu dem Monster gemacht hatten, das er war! Entschlossen Schrittes ging ich auf ihn zu. Ein krachender Blitz schlug ein und erhellte das Bild. Dann normalisierte es sich wieder, und nichts hatte sich geändert.
Fast nichts. Noch immer befand ich mich in Mitumials Zimmer, und in seinem Kopf. Aber weder waren die Regale umgeschmissen, noch kauerte auf dem Bett. Ein offenes Buch lag darauf. Ich kniete mich davor. Die Tinte auf der ersten Seite war noch frisch.
15. Tag des Kraken, 6098 n. St.
Vater sagt, dass es in dieser Welt keinen Platz für Schwächlinge gäbe. Aber er liegt falsch.
Es hat lange gedauert, bis ich die Kraft fand, zu diesem Schluss zu kommen. Aber ich spüre die Wahrheit meiner Worte, während ich sie schreibe. Anfangs habe ich ihn für seine Schandtaten gehasst; Seine zwielichten Geschäfte, seine "Ausflüge" in die Unterstadt, die Dinge, die er Mutter antat und die zweifelsohne zu ihrem Tod beigetragen haben. Warum er bei mir nie handgreiflich wurde, sondern es stets bei verbalen Demütigungen ließ, ist mir ein Rätsel. Vielleicht, weil ich am Ende doch sein Sohn war? Ich weiß es nicht.
Was er jedoch zu begreifen nicht imstande, war ist folgende, simple Wahrheit: Der wahre Schwächling ist er. Wohlstand, Status und Pfadesehre zum Trotz ist er innerlich kaum mehr als ein verzweifeltes Kind, das mit seinen Machtgebärden nicht mehr zu erlangen versucht als Akzeptanz und Wertgefühl. Wie leicht es doch ist, in dererlei Muster zu verfallen, wenn man sich ihrer nicht bewusst ist. Ich schäme mich beim Gedanken an die Dinge, die ich getan habe. Kleinigkeiten, rechtfertigt es mein Geist, aber erst jetzt habe ich begriffen, wie kurz ich davor war, in genau denselben Kreislauf von Gewalt und Selbsthass zu stürzen wie mein Vater. Warum habe ich den Adelsjungen geschlagen? Damals sagte ich: Weil er mich respektlos behandelt hat. Heute weiß ich, dass ich nichts weiter tun wollte als meinem Vater zu beweisen, was für ein starker Mann ich doch tatsächlich bin. Und ich bin mir sicher - hätte ich Ebenjenes nicht verstanden, hätte eines zum anderen geführt, und aus harmlosen Rangeleien wäre schlimmeres geworden. Und bevor ich mich versehen hätte, wäre ich zu genau dem geworden, was ich fürchtete.
Mein Entschluss steht also: Ich werde mich ändern. Und werde ich erst einmal der aufrechte Mensch sein, den ich vor Auge habe, wird selbst mein Vater die Niederträchtigkeit seiner Taten begreifen.
Ich habe es in mir ... und er auch. Daran glaube ich von tiefesten Herzen.
Fassungslos starrte ich auf das offene Buch vor mir.
Er wollte sich ändern.
War es wirklich möglich? Waren seine Intentionen so nobel? Aber wie?> dachte ich, Er war besessen! Und haben die Dämonen erst einmal zu lange in einem Menschen gehaust, gab es kein Zurück mehr. Ein lauerndes Unbehagen stieg in mir auf, und ich stellte voller Schrecken fest, dass ich es bereits kannte. Es war dasselbe Gefühl, fehlgeleitet zu sein, dass mich dazu gebracht hatte, Nebelhaim zu verlassen, meinen Pfad zu verraten, der schwarzen Waage beizutreten. Und nun war es wieder da.
Ich hörte ein dumpfes Geräusch hinter mir, gleich einem zu Boden fallenden Leichensack. Es war Mitumial Dal'Joul. Ein älterer Mann, den ich als Diener des Hauses identifizierte, stand im Türrahmen. Mitumial war zu Boden gesunken und hatte sein Gesicht in seinen Händen vergraben. Wie wild tobte das Feuer in mir, aber diesmal fühlte sich seine berauschende Wirkung wie ein Fremdkörper, ein Eindringling an.
"Wir kamen zu spät.", hörte ich den Diener sagen. Er mied den Blick seines jungen Herren. "Es tut mir Leid." Als eine Erwiderung ausblieb, wandte er sich ab und ging.
Ich spürte, wie ein Ruck meinen Körper durchzuckte. Das Feuer hatte gespeist, die Sünden gesehen. Mitumial Dal'Joul starb. Die spektrale Welt um mich herum begann zu verblassen, langsam, aber beständig, wie die Tinte eines Briefs im Regen. Irritiert sah ich zu dem Tagebuch auf dem Bett und dann zu der Erinnerung des Mannes, den ich gerichtet hatte. Der drei unschuldige Menschen ermordet hatte. Der sich der Sünde hingegeben hatte.
Er hatte die Taten seines Vaters verachtet. Er wollte ihn und sich ändern.
Aber dennoch war er zum Mörder geworden. Wieso? Welche Kunde hatte ihm der Diener überbracht?
In mir begann ein schwaches Licht zu glühen, ein Schimmer der Erkenntnis. Und wer weiß, wie die Dinge verlaufen wären, wenn ich in jenem letzten Augenblick einfach die Augen geschlossen hätte, in dem einen Augenblick, der mir damals noch in Mitumial Dal'Jouls Erinnerung verblieb. Aber stattdessen sah ich hin. Mit quälender Langsamkeit wanderten meine Augen von dem sauberen Marmorboden hoch zu den mit altem Wissen gefüllten Bücherregalen, zur Decke, und kamen über dem opulenten Türrahmen zum Stillstand, den ich vor wenigen Momenten betreten hatte. In einer goldenen Fassung hing ein alter Rundschild, bemalt mit einem Wappen.
Es zeigte einen Bären.

Gleich der Erinnerung an meine Flucht aus Nebelhaim ist auch die an die Augenblicke nach meinem Erwachen verblasst und löchrig. Klar erinnere ich mich jedoch nach daran, dass ich mit langsamen, ruhigen Bewegungen, die ein Außenstehender als Zeichen von Gelassenheit - Kaltblütigkeit, in Anbetracht meiner soeben vollzogenen Tag - hätte missverstehen können, von der Bettkante aufstand. Mitumial Dal'Joul war tot, und um dies zu erkennen hatte ich keinen weiteren Blick auf seinen Körper benötigt. Mein Herz hatte wie wild gegen meine Brust gehämmert, berauscht vom Nektar seiner Sünden. Ich jedoch fühlte mich kalt. An meine Flucht aus dem Gebäude erinnere ich mich nicht mehr. Der Rauch des von mir gelegten Feuers lag noch in der Arker Nachtluft, als ich auf das Stadttor zuging. Es war verschlossen, aber im Pförtnerhaus brannte Licht. Ich hatte keinen Plan, wie ich der Wache schlüssig erklären konnte, warum ich zu so später Stunde die Stadt verlassen musste, und ich brauchte ihn nicht. Notfalls würde ich das Tor mitsamt all denen, die es bewachten, in Asche verwandeln, wenn es der einzige Weg war, Abstand zu gewinnen. Die lähmende Angst in meinem Magen war wieder da, nur, dass sich mir diesmal kein Ausweg bot. Ich war einer Lüge gefolgt, vom Anfang bis zum Ende. Es gab keine Dämonen, die von Menschen Besitz ergriffen. Keine Sünden, keine Verdorbenheit.
Es gab nur Ursache und Wirkung.
Und kein geringerer als ich war es gewesen, der das Schicksal des jungen Dal'Joul durch den Mord an seinem Vater besiegelt hatte Er wollte sich ändern. Meine Augen brannten, und meine Glieder schmerzten. Meine Gedanken waren nicht mehr im Einklang mit dem Feuer, und es spürte diese Dissonanz und bestrafte mich dafür. Geh zurück, hörte ich seine Stimme aus der Glut in mir sprechen, geh zurück und tu, was dir bestimmt ist. Aber ich ignorierte es. Meine Faust hatte meinen Dolch fest umklammert, als ich auf das Pförtnerhaus zuging. Ich sah den Schatten eines Mannes flackern. Gitterstäbe trennten die kleine Steinbaut von den Außenstehenden. Ich schluckte, machte mich bereit zum Sprechen. Und hielt inne.
Ich kannte das Gesicht, das mir durch das Fenster hinzu, entgegenblickte, und das auf seinen Lippen lauernde Lächeln. Der dazugehörige Mann hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt, das eine Bein rechtwinklig über das andere geschlagen, und die Arme hinter den Kopf abgewinkelt.
"Wohin des Weges?", fragte Qalian. Er sprach wie ein Mann, der nach einer langen Tavernennacht einen guten Kumpanen unerwartet auf den Straßen traf. Es hätte nicht des Feuers bedurft, um zu realisieren, was im Kopf meines Mentors vorging. Er spürt es. Ich schwieg, unfähig, etwas zu erwidern. Die Situation erinnerte mich an mein altes Ich, den stumpfzungingen, verkappten Mann ohne tiefere Einblicke in das Leben. Auch Qalian entschied sich für die Stille, und eine Weile lang sahen wir uns einfach nur an. Bildete ich es mir ein, oder warf sein Körper trotz des hellen Kerzenlichts vor ihm keinen Schatten?
Schließlich brach er das Schweigen.
"Ich werde dich nicht aufhalten. Aber sie werden dich holen."
Ich blieb still.
"Wir alle waren einmal dort, wo du jetzt bist."
Stumpfer Zorn erfüllte mich. "Wart ihr das?"
"Ja, mein Freund." Sein Blick schwief ab, so wie er es in unseren Gesprächen oft getan hatte. "Waren wir."
"Wir sind Schuld, Qalian. Nicht irgendwelche Dämonen, nicht die Sünden, wir allein." Meine Stimme bebte. Ein Wort bildete sich auf meiner Zunge, erst ein Kitzeln, dann eine klare Form, und bevor ich es überhaupt begriffen hatte, war es mir bereits entwichen.
"Es ist ein Kreislauf."
Qalian lächelte, das Lächeln, das ein Meister seinem Schüler entgegenbrachte, wenn er zu einem nachvollziehbaren, aber naiven Trugschluss geraten war. Dann schüttelte er den Kopf.
"Ich werde dich nicht aufhalten.", wiederholte er seine Worte.
Eines Tages wirst du eine Entscheidung treffen. Und ich hoffe, dass es die richtige sein wird.
Meine Hände zitterten und die Angst erdrückte mich. Ich spürte, wie Tränen hinter meinen Augen kitzelten. Alles war umsonst. Ich hatte geglaubt, etwas besonderes gewesen zu sein. Die Welt durch meine Taten zu verbessern. Meine Bestimmung gefunden zu haben. Aber ich hatte nichts gefunden. Ich war in eine Vereinigung von Wahnsinnigen hereingeraten, die sich durch Wildmagie und unheilige Rituale zu Richtern über Leben und Tod erhoben. "Öffne das Tor." Meine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Qalian nickte, mit einem Hauch Bedauern. Er hatte diese Antwort erwartet. Drei Atemzüge später begann sich die Mechanik des Tors in Bewegung zu setzen, und es ratterte nach oben. Ohne Qalian ein weiteres Mal anzusehen, wand ich mich ab und ging.
"Niemand verlässt die schwarze Waage", hörte ich seine Stimme hinter mir verhallen. Sie klang weder wütend, noch hämisch. Nur traurig.
"Niemand."
Ich verschwand im Dunkel der Nacht.

~ Meine Hand schmerzt, und ich spüre, wie sie näherkommen. Ich selbst will es beenden. Gern würde ich behaupten, dass die Gründe dafür etwa Emotionen wie Schuld oder Ehrgefühl sind, aber das ist eine Lüge. Simple Angst treibt mich an. Angst vor dem, was die schwarze Waage mit Verrätern tut. Den Ort, an dem ich diese Niederschrift begonnen habe, wird der sein, an dem ich aus dieser Welt scheiden werde. War es Schicksal, dass ich hier enden würde? Die Tatsache, dass ich mich in einem alten, verlassenen Handelsposten mittem im Wald befinde, legt diese Schlussfolgerung nahe. Wie ironisch doch mein Schicksal ist, wurde mir erst klar, als ich am gestrigen Morgen zwischen den kalten Steinmauern aufwachte. Die ganze Nacht über war ich gewandert, und ich erinnere mich an eine seltsame Figur, die ich stets dreißig Armweit vor mir voranschreiten sah. Ich folgte ihr. Kurz bevor ich dann die Lichtung fand, wand sie sich mir ein letztes Mal zu und lächelte. Der Schmuck ihrer Haare im Wind klang wie ein Windspiel aus Kilé. Dann verschwand sie, als wäre sie nie dagewesen. Ich wünschte, ich hätte bedeutsame Worte, mit denen ich diese Niederschrift beenden könnte. Aber ich habe sie nicht, denn wie ich es bereits erwähnt habe, soll sie nicht mehr sein als eine Schilderung. Eine Schilderung dessen, was Jaél Gerberssohn, den Namenlosen, zum Schlächter von Ark gemacht hat. Meine Augen tränen von der Müdigkeit, und meine Hände zittern am Gedanken an das, was mir bevorsteht. Mehrere Dutzend Menschen starben unter meiner Klinge, und dennoch bin ich so feige, wenn es darum geht, ein weiteres Leben zu nehmen. Das meine. Eine letzte Bitte will ich Euch noch auferlegen. Nicht nur die Herolde und der Orden wird es sein, der meine Geschichte zugunsten einer einfachen Erklärung verdrehen wird. Auch die schwarze Waage wird ihren Teil dazubeitragen. Sie ist in den Schatten geboren, und dort wird sie bleiben. Nirgendwo werdet Ihr Spuren ihres Handelns finden, und die, die ich hinterlasse, werden sie mit List und Tücke verwischen. Neben den einfachen Erklärungen - ich sei vom Pfad abgekommen, sei wegelos gewesen, sei eine Bestie - wird es andere geben, andere, die die Gelehrten und Philosophen zufrieden stimmen werden. Aber hört nicht auf sie.

Sie sind nichts weiter als Lügen.


Epilog - Brief des Chronisten

[Die Schrift der folgenden, letzten Seiten unterscheidet sich stark von der Jaél Gerberssohns. - Es ist offensichtlich, dass sie einer anderen Person entstammt]

Lieber Turas,
Ich muss über deinen letzten Brief schmunzeln. Nein, die schwarze Waage existiert nicht, und ja, ich halte Nachforschungen über ihre Machenschaften für Zeitverschwendung.
Warum, magst du mich nun fragen? Ganz einfach.
Jaél Gerberssohn war bis in den letzten Winkel seines Verstandes verrückt. Er litt an massiven Wahnvorstellungen, und beinahe alles, was du auf den vorangegangenen Seiten gelesen hast, ist Unfug. Nun ist mir sehr wohl bewusst, dass sich diese Aussage nur allzu gut mit den letzten Worten dieses Buches deckt. Aber lass mich dir einen Einblick in die Lebensgeschichte des Schlächters von Ark geben, so wie sie sich tatsächlich zugetragen hat; und du wirst sehen, warum das, was ich sage, mehr Sinn ergibt als Gerberssohns metaphysisches Gerede von Dämonen, der schwarzen Waage und dem Feuer.
Jaél Gerberssohn wurde im Jahr 8156. n. St. In einem kleinen Dorf namens Nordwind geboren, Sohn eines einfachen Schreinersmannes und seiner Gefährtin. Sein wahres Alter belief sich dementsprechend zum Beginn seiner Chronik auch auf zweiunddreißig, und nicht auf achtundzwanzig Jahre. Das verändert auch das Alter, in dem er ausgesetzt wurde auf vier und nicht auf zwei Jahre. Ich vermute, dass er ob seiner gebrechlichen Statur und geringen Körpergröße schlicht und einfach jünger geschätzt wurde.
Sein leiblicher Vater trug den Namen Samaél Spänenblatt und war ein zutiefst gewalttätiger und geistig gestörter Mann. Beide Charakterzüge waren - es schmerzt mich zu sagen - eng mit seiner Religiösität verwoben. Mehrmals täglich kehrte er mit zwanghafter Pünktlichkeit in dem örtlichen Tempel ein, um zu beten, verpasste nie auch nur eine einzige Messe oder Predigt, und beherrschte alle 101 Verse des Pfades in ihrer gesamten Länge auswendig. Nichts war für ihn wichtiger Wegestreue und Liebe zu unsrem' Herren, und ebendas erwartete er von jedem seiner Mitmenschen - was, wie du dir denken kannst, dazu führte, dass er ein sehr isoliertes Leben führte.
Obgleich er den Predigten des Paters stets beiwohnte, befand er ihre Inhalte oft für zu seicht, und den Umgang mit Wegelosigkeit in Nordwind für zu nachsichtig. Wenn er nicht betete, arbeitete er, und er entsagte sich Gelüsten wie körperlicher Liebe, Alkohol oder sogar Musik. Umso erstaunter war man im Dorf, als plötzlich die Kunde kursierte, dass der fromme Samaél bald Vater werden sollte. Obgleich er es bestritt, war jedem klar, wer die Mutter war: Eine junge Wanderhure, die man in den vergangenen Wochen immer öfters in seinem Haus hatte ein und ausgehen sehen. Dass jeder um die Schwangerschaft wusste, versetzte Samaél in eine schwierige Situation - eine leibesfruchttagende Frau auszusetzen und damit sowohl Mord an dem Kind als auch an der Frau selber zu begehen, galt als eine schwere Sünde, selbst wenn diese geringen Standes oder eine Hure war - und darüber hinaus entsprach es nicht im geringsten seinem Selbstbild. Also tat er das einzige, was er tun konnte: Er nahm die junge Frau, kaum zwanzig Winter alt, zur Gefährtin, und fünf Monde später wurde der junge Jaél geboren.
Wie du dir denken kannst, stand die neugeschaffene Familie unter keinem guten Stern. War Samaél den Erzählungen des Paters, den ich befragte, zufolge schon damals stets lauernd aggressiv und jähzornig gewesen, so nahm diese Aggression mit der ungewollten Vaterschaft immer weiter zu. Die Angst und Verstörung, die man in den Augen der Spänenblatt's junger Gefährtin erkennen konnte, war bei den Dreitagesmessen beinahe greifbar gewesen, hatte er mir gestanden. Also nahm das Unglück seinen Lauf, und Samaél schottete sich und seine "Familie" immer mehr von der Außenwelt ab, als er es eh schon getan hatte. Du wirst schon ahnen, welchen Kurs diese Geschichte annimmt, lieber Turas, also will ich mich kurz und knapp halten: Samaél Spänenblatt misshandelte sowohl seine Gefährtin als auch seinen jungen Sohn. Was als schletender Blick begonnen hatte, nahm die Form eines Faustschlags an; und seinen Ursprung als Fluch genommen hatte, wurde zum Rutenhieb.
All dies tat er jedoch zum "Schutze" seiner Geliebten, wie er dem Pater einst in der Beichte gestand. Denn sowohl seine Gefährtin als auch sein Knabe werden von "Dämonen" heimgesucht, fürchterliche Dämonen, deren einziger Daseinszweck es sei, beide vom rechten Weg abzubringen, sie zu verderben. "Man kann sie nicht auf Dauer vertreiben", hatte er dem Priester mit tränenerstickter Stimme gestanden, "denn sie kommen immer wieder, egal was man tut." Egal wie ergeben man betet, egal wie züchtig die Gedanken. "Sie kommen immer wieder."
Warum der Pater nichts unternommen hatte? Er war sich nicht darüber im Klaren, wie schlimm es wirklich war. Dass Kinder - und auch Weiber - von ihren Vätern gezüchtigt werden, ist vor allem bei der ländlichen Bevölkerung kein Novum, und die Wahrheit hatte er erst begriffen, als er die junge Frau eines Tages beim Gang zum Dorfbrunnen beobachtet hatte. Eine Windbö blies ihren Schleier vom Gesicht, und offenbarte ein Meer aus Schnitten, Beulen und Knochenbrüchen. Erinnerst du dich an die krähenartige Nase des Schlächters? Sie ist ein Erinnerungsstück einer "Dämonenaustreibung".
Es gibt nicht viel mehr über jene traurige Epoche seines Lebens zu erzählen, bis auf das tragische Ende, das sie nahm. In einem Verzweiflungsakt nahm sich Jaéls Mutter das Leben, aber erst nachdem sie ihrem Mann im Schlaf den Schädel mit einem schweren Hammer zertrümmert hatte. Den Jungen fand man fünf Tage später ausgehungert im Schlafgemach seiner Eltern, den Blick leer und auf den mannshohen Malphasaltar gerichtet, dessen Statuette von trockenem Blut befleckt war. Ich weiß bis heute nicht, ob er der furchtbaren Tat beigewohnt hatte oder den Raum erst betreten hatte, als seine beiden Eltern schon tot waren. Er weinte nicht, sprach kein Wort, und seine Augen hatten nichts mehr mit denen eines kaum vier Jahre alten Kindes gemein.
Auf meine Frage, warum man den Jungen nicht einer Familie im Dorf übergeben habe, gestand mir der Pater schließlich mit gesenktem Blick, dass sich niemand seiner hatte annehmen wollen - Ein Kind, das in so frühem Alter bereits Blutvergießen und Mord gesehen hatte, brachte Unglück, munkelte man in der einheimischen Folklore, und außerdem waren die Zeiten hart und der Weizen knapp. Also hüllte der Pater den Jungen in eine dicke Wolldecke, ritt auf seinem Leoren bishin zur Nebelstraße und legte ihn mitsamt einer kleinen Mitgift unter einen Wegesschrein - in der Hoffnung, jemand würde sich des Knabens erbarmen. Gilmon der Gerber, der den Jungen schließlich großzog, ist dir ja bereits aus den dir vorliegenden Aufzeichnungen bekannt. Zwar teilte dieser weder Samaél Spänenblatts religiösen Wahn noch dessen Gewalttätigkeit, aber wie du aus den Schriften des Schlächters sicherlich schon erkennen konntest, bot auch er dem Knaben alles, nur kein anständiges Umfeld, in dem seine seelische Narbe nur ansatzweise hätte gedeihen können.
Mit elf Wintern ging er schließlich bei der örtlichen Mater in Lehre und übernahm fünf Jahre später die Leitung des Nebelhaimer Tempels. Die Dorfbewohner jedoch beschrieben ihn als in sich gekehrten, pflichtbewussten Mann mit stets unruhigen Blick, und tatsächlich dauerte es ganze drei Tage, bis man sein Verschwinden nach dem Sternsommernachtsfest überhaupt bemerkte.
Im dritten Kapitel seiner Schilderungen erzählt Jaél schließlich von den Geschehnissen im "Roten Ochsen", einer kleinen Taverne unweit von Ark, in der aus einem eigentlich harmlosen Racheakt seine erste Tötung wurde. Ausführlich beschreibt er die berauschenden Gefühle, die von ihm während dem Mord Besitz ergriffen haben, und schildert seine erste Begegnung mit Qalian, der ihm in den folgenden Monden und Wintern als Mentor und Freund begleitet habe. Hier jedoch beginnt sich das erste Mal die Wahrheit mit der Phantasie zu vermischen. Zwar erinnert sich der Schankwirt des roten Ochsen tatsächlich noch an die Demütigung eines traurig aussehenden, mageren Mannes und ebenfalls daran, dass die beiden Reiter mitsamt Pferden und der schlanke Mann am nächsten Morgen verschwunden waren ohne bezahlt zu haben. An einen Mann von Qalians Aussehen will er an jenem Abend nicht in der Taverne gesehen haben. Wo dieser Umstand noch der schieren Anzahl an Gesichtern zuzuschreiben sein kann, die der Wirt seit jeher gesehen haben muss, spricht die Tatsache, dass die beiden Hünen - Naratil und Jorah Dal'Karek, die tatsächlich zwei unfreundliche Zeitgenossen sind - einige Tage später wieder in Ark gesichtet wurden und sich heute noch bester Gesundheit erfreuen, keinen Widerspruch. Ja, du hast richtig gelesen, Turas - Beide Männer, die laut dem Schlächter in jener Nacht einen blutigen Tod starben, sind wohlauf, und ich habe sogar mit ihnen im Zuge meiner Nachforschungen gesprochen.
Ich weiß nicht, was sich tatsächlich im roten Ochsen zugetragen hat, aber ich vermute stark, dass Jaéls inniges Bedürfnis, sich für die Demütigung zu rächen, an jenem Abend den ersten Spross seines Wahnsinns aus der Erde getrieben hat. Er fühlte sich schwach, und die Gewalt, die ihm an jenem Abend angetan wurde, erinnerte ihn unbewusst nur zu gut an die Situation, in der er sich als junger Knabe unter seinem geistig gestörtem Vater stets wiedergefunden hatte.
Aber natürlich war er gleichzeitig machtlos, etwas zu unternehmen - und an dieser Stelle nahm seine Vorstellungskraft schlicht und einfach die Oberhand und er phantasierte sich eine Variante der Geschehnisse zusammen, die so nie zum Tragen gekommen war, und floh schließlich Hals über Kopf in den Wald. Nun magst du mir entgegenhalten, dass meine Schlussfolgerung, er habe sich die Morde tatsächlich nur eingebildet, arg bei den Haaren herbeigezogen klingt. Aber lass mich mit der Schilderung der wahren Ereignisse fortfahren, und dir später meine all dem zugrunde liegende These erklären.
Ungefähr sechs Monde, bevor die tatsächlichen Tötungen begannen, bei denen ein nachweislicher Zusammenhang zu Jaél Gerberssohn besteht, behauptet dieser in Ark angekommen zu sein. Er erzählt, mit seinem Mentor und Kumpanen in einer Taverne Zuflucht gefunden zu haben und gleich am Folgetag seiner Ankunft in der Unterstadt gemeinsam mit Qalian eine Art "Kinderbordell" ausgelöscht zu haben. Auch hier wieder: Der Schankwirt des "Tanzenden Nomaden" erkannte zwar Jaél auf einer Zeichnung wieder, aber konnte sich an niemanden Qalians Beschreibung erinnern. Und auch das erwähnte Bordell hat als solches nie existiert, wie mir meine Kontakte in der Unterstadt versichert haben. Aber ist Schleierhaftigkeit nicht gerade der Sinn und Zweck eines derartigen Bordells?, würdest du mich nun fragen. Ja, lieber Turas, das ist sie, aber dennoch könnte ein derartiges Geschäft nur unter dem Schutz einer größere Organisation wie beispielsweise der Rhalâta bestehen. Und unter diesen Umständen kannst du dir sicher sein, dass die Rhalâta die restlose Vernichtung einer - es schmerzt mich, zu sagen - derart lukrativen Einnahmequelle keinesfalls toleriert hätte. Nein ... Wir wissen beide, zu welcher Grausamkeit diese Organisation fähig ist, und was sie mit Menschen tun, die gegen ihre Autorität handeln. Was jedoch tatsächlich geschah, war, dass in der Unterstadt mehr und mehr Obdachlose und Kranke ermordet in den Gassen aufgefunden wurden, allesamt bis zur Unkenntlichkeit mit einem Dolch zerstochen, so wie es Gerberssohns Handschrift war.
Die ersten Überschneidungen mit der Wirklichkeit beginnen drei Monates später, ein Zeitpunkt, der sich tatsächlich mit dem Ablegen seiner "Prüfung" überschneidet. Hier wurden die ersten Leichen entdeckt, und hier begann man aufgrund der brutalen Art und Weise, in der die Menschen hingerichtet wurden, von der Mordserie des "Schlächters von Ark" zu sprechen. In dem folgenden Jahr, in dem Jaél in Ark wütete und es durch Perfidität und Intelligenz immer wieder schaffte, erst der Garde und später dem heiligen Orden selbst zu entkommen, starben insgesamt zwei Dutzend Menschen, bei denen Zusammenhang mit dem Schlächter unabstreitbar ist, und ein weiteres Dutzend, bei denen er nicht auszuschließen ist. Nie jedoch war eine zweite Person involviert, und nicht alle seiner Opfer hatten sich irgendwelcher Verbrechen schuldig gemacht.
Du fragst dich nun sicherlich dasselbe wie ich am Anfang meiner Nachforschungen - Warum die Abweichungen? Warum das Erfinden einer mysteriösen Sekte, deren Aufgabe es ist, das Böse im Zaum zu halten? Warum das Gerede von einem "Nektar der Sünden", der es dem Mörder ermöglicht, in die Erinnerung seines Opfers einzutaufen und ihm dafür mit sexueller Ekstase belohnt?
Ich für mich habe eine Erklärung dazu gefunden, und sie fußt auf meiner Überzeugung, dass sich nur die wenigsten aller Mörder und Verbrecher dieser Welt für böse Menschen halten, sondern zumeist denken, das richtige tun. Wir sind so gut darin, uns Gedankenmodelle zu schaffen, die uns dabei helfen, unsere Taten mit unserem Selbstbild zu vereinen. Auch bei Jaél Gerberssohn verhielt es sich nicht anders und die Essenz dessen, was er mit seinen Taten unbewusst bezwecken wollten, liegt tief in seiner Kindheit verwurzelt.
Du kannst du dir sicherlich denken, dass diese nicht spurenlos an Jaél Gerberssohn vorbeigegangen ist. Ich bin mir sicher, dass Jaél auf einer unbewussten Ebene verstand, was sein Vater ihm antat, und dass er ihn zutiefst dafür hasste. Nun weißt du aber auch, dass Kinder besonders in frühen Jahren noch nicht zwischen ihrer Umwelt und sich selbst unterscheiden können - Ich vermute, dass dies auch bei Jaél der Fall war. Je mehr er seinen Vater hasste, desto mehr hasste er auch sich selbst, ja, umso mehr gab er sich selbst die Schuld für all die Schmerzen, die er und seine geliebte Mutter stets erleiden musste. Vater hatte es doch gesagt, oder nicht? "Ich will euch doch nur beschützen. Es sind die Dämonen, ihr lasst sie immer wieder in euer Herz." Immer wieder jedoch versagte der Junge darin, immer und immer wieder. Und immer wieder mussten er und seine Mutter teuer dafür bezahlen. Was sehnte er sich nach Frieden, nach der Liebe seines Vaters und nach Harmonie. Aber er sollte sie nie bekommen, nein, nicht einmal sollte er seine innere Zerissenheit jemals verstehen lernen, denn als die Dämonen ein einziges, letztes Mal von seiner Mutter Besitz ergriffen, rissen sie die beiden einzigen Menschen, die er kannte, ein für alle Mal aus seinem Leben.
Unfähig, das Geschehene nur ansatzweise zu begreifen oder zu verarbeiten, wurden die grausamen Bilder, der ungelenkte Hass, die Schuld, und ein beißender Vorwurf, eine tief sitzende Erkenntnis in eine geistige Schatulle gesperrt, die sein kindlicher Verstand so tief in seinem Unterbewusstsein verscharrte, dass er in den kommenden Jahrzehnten nichts als eine neblige, allgegenwärtige Anngst empfinden sollte, die ihn daran hinderte, jemals etwas wie wahres Glück zu empfinden.
Bis zum Tage des Traumes, an dem er das erste Mal seither mit seinen vergrabenen Erinnerungen in Form seiner eigenen Leichen konfrontiert werden sollte. Ich bin mir sicher, dass der Fund seiner eigenen, verwesenden Leiche jenen verrottetenden Teil seiner selbst symbolisierte, der all die Jahre weggesperrt in ihm geschlummert hatte. Nun aber war seine drückende Präsenz aber zu stark geworden, als dass er ihn noch weiter hatte ignorieren können. Er würde sterben, wenn er ihn nicht zu verstehen, zu besänftigen, oder zu heilen lernte, und so floh er Hals über Kopf aus dem Leben, sein einziger Kompass ein verworrenes, ungreifbares Gefühl in ihm, dass zu seinem eigenen Tod führen sollte wie eine Flamme die Motte. Es strafte ihn mit einer tumben, unerträglichen Angst wenn er gegen es handelte, und es belohnte ihn mit manischer Ekstase wenn er etwas "richtiges" tat. Ohne dieses Gefühl hätte er das Dorf nie verlassen, das Töten für sein krankes Fantasiekonstrukt der schwarzen Waage nie begonnen, ja, ohne es wäre er nie zum Schlächter von Ark geworden, sondern hätte sein friedliches, wenngleich trauriges Leben als Pater Nebelhaims beendet. Er nannte dieses Gefühl das Feuer. Ich nenne es die Suche nach Vergebung.
Denn mit jeder Entscheidung, mit jedem Mord, mit jedem Schritt, den er ging, wollte er nur eines bezwecken: Dort triumphieren, wo er einst gescheitert war. Er wollte die Dämonen, die seiner Familie so viel Leid zugefügt hatten - Sein Vater hatte ja stets nur das getan, was getan werden musste! - ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Sie vom Antlitz der Welt tilgen, und so endlich den Frieden schaffen, der ihm immer verwehrt worden war. Verstehst du? Die Dämonen, das Feuer, die schwarze Waage - All das war nicht mehr als sein unbewusstes Streben nach Absolution! Absolution für ein Verbrechen, dass er niemals begangen hatte! Die Dämonen, die Jaél in seinen Opfern sah, waren nicht mehr als Projektionen der Schuld, die er sich selbst am Tod seiner beiden Eltern gab, und durch die Morde versuchte er genau diese Schuld wiedergutzumachen!
Vielleicht findest du meine These auf den ersten Blick absurd - aber bedenke doch all die Parallelen, die Jaéls Schilderungen mit seiner Vergangenheit aufweisen; die offensichtlichste sei an dieser Stelle wohl die Wahl seiner Worte, "Sündiger", "Dämonen" und "Seelenreiniger". Die Menschheit ist schwach und verdorben, aber es gibt einen versteckten Orden, der die Menschheit so vor dem Verfall bewahrt. Was ist das, wenn nicht eine Rekonstruktion seiner familiären Umstände! Weiter geht es bei der fiktiven Persönlichkeit des "Qalian". Ist er nicht eine idealisierte Inkarnation dessen, wie Jaél gerne gewesen wäre? Stark, gesetzlos, voller Lebenswille und ganz und gar der schwarzen Waage verschrieben, ohne die Zweifel, die Jaél bis zum Ende hin hatte, und die es auch waren, die die letzte Parallele zu seiner Kindheit bewirkten: Sein Scheitern. Obgleich nämlich Dutzende Menschen ihr Leben für Gerbersohn's wahnsinnige Suche nach Vergebung lassen mussten, endete sie mit genau derselben Erkenntnis, wie sie damals in dem kleinen Knaben geendet hatte. Denn trotz aller Selbstaufopferung, trotz aller Macht - am Ende war er zu schwach gewesen. Sein Wille, seine Prinzipientreue, sein Glaube an die Richtigkeit seiner Sache - All dies hatte nicht genügt. Er war gescheitert - und verließ diese Welt als gebrochener Mann.
Du siehst, lieber Turas - Die Parallelen sind zu eindeutig, um Zufall zu sein. Lediglich zwei Symbole in seiner Geschichte habe ich noch nicht zu entschlüsseln gelernt: Die verschleierte Frau, die ihm in seiner Vision erschien, und das Aufnahmeritual. Ich habe meine Theorien, aber noch sind sie vage. Nichtsdestotrotz kannst du dich also beruhigt zurücklehnen: Der Tag, an dem ein Wildmagie-begabter Mörder dein Gemach betreten wird um dich zu töten und anschließend deine Sünden - ich bin mir sicher, sie sind zahlreich! - zu verspeisen, wird nicht kommen. Die schwarze Waage existiert nicht, genau so wenig wie das Feuer oder ein Qalian.
Für mich ist die Geschichte des "Schlächters von Ark" in erster Linie das traurige Zeugnis eines Mannes, der auf seiner Suche nach Vergebung etlichen Unschuldigen das Leben nahm. Wer trägt denn nun letzten Endes die Schuld? Er? Sein Vater? Und falls du dich für letzteres entscheidest, woher weißt du, ob nicht auch Samaél Spanenblatt mit seiner krankhaften Religiosität und seinen "Dämonenaustreibungen" nur eine seelische Narbe zu schließen versucht hatte, eine seelische Narbe, die auch er nicht zu verschulden hat?
In diesem einen Punkt hat Jaél Gerbersohn Recht gehabt: Es ist eine ewige Kette von Ursache und Wirkung. Ein Kreislauf.
Und nirgendwo darin wird man einen Schuldigen finden.

Gez. Carolyl Dal'Gamar, Arkanist des dritten Siegels und Chronist des Heiligen Ordens