Enderal:Der Schlächter von Ark, Buch 1: Folge dem Feuer

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Der Schlächter von Ark, Buch 1: Folge dem Feuer

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Literatur Der Schlächter von Ark, Buch 1: Folge dem Feuer
Daten
Gewicht Gewicht
1
Wert Wert
30
Autor
Jaél Gerbersohn
Bemerkungen
-




Der Schlächter von Ark, Buch 1: Folge dem Feuer ist ein Buch in Enderal – Die Trümmer der Ordnung.

Quellen

Eine digitale Version könnt ihr auf der Website von SureAI finden - Der Schlächter von Ark, Buch 1: Folge dem Feuer

Fundorte


Inhalt

Vorwort

Sie nennen mich „Den Schlächter“.

Es schmerzt, diese Zeilen zu schreiben, obgleich ich mir ihrer Wahrheit bewusst bin. Wie sonst bezeichnet man einen Mann, dessen Spur von Dutzenden Leichen gezeichnet ist, Leichen, die nicht etwa die stummen Zeugen einer Schlacht oder eines Unglücks sind, nein, Leichen, die allesamt das Ergebnis meiner eigenen Hände sind. Männer, Frauen, Greise, Kinder. Priester, Händler, Vagabunden und Huren. Meine Morde scheinen einem undurchschaubaren Muster zu folgen, dessen Willkür selbst nach meinem Freitod der ganzen Welt einen eisigen Schleier ums Herz legen wird. Doch selbstverständlich ist es nicht das, was die Herolde verkünden werden. Für sie und den Heiligen Orden bin ich eine Abscheulichkeit, ein Monster, ein Wegeloser, der von seinen niederen Gelüsten von dem von Malphas für ihn bestimmten Pfad abgekommen ist. Ich war ein böser Mensch, werden sie sagen, eine Bestie, und mein Herz sei schwarz wie Mitternacht gewesen. Denn das sind die Farben, in denen die Menschheit bevorzugt denkt: Schwarz und Weiß. Nach dem Wie und dem Warum wird niemand fragen. Auch diese Niederschrift meiner Gedanken wird schwer zu erlangen sein, denn der Heilige Orden wird alles in seiner Macht stehende tun, um deren Druck zu verhindern. In diesem Sinne beglückwünsche ich Euch. Denn durch sie werdet Ihr einen Einblick in meine Gedanken erhalten.

Versteht sie jedoch nicht als Rechtfertigung für meine Taten, denn das ist sie nicht. Ich bin mir meiner Schuld voll und ganz bewusst und bedarf keiner Absolution, weder von Malphas – dessen vermeintliche „Göttlichkeit“ ich heute nur noch belächle, noch von dem Volk, der Gerechtigkeit oder sonst einer übergeordneten Macht, deren wahre Natur wir noch nicht zu verstehen gelernt haben.

Diese vergilbten Seiten sind nichts Geringeres als ein Zeugnis jener seltsamen, undurchschaubaren Ereignisse, die mich zu dem gemacht haben, was ich bin.

Kapitel 1: Folge dem Feuer

Es war ein trüber, kühler und nasser Morgen, der mein Leben für immer verändern sollte. Ja, es schien fast, als hätte sich die Natur als Antwort auf die zecherischen Feierlichkeiten der vorangegangenen Nacht dazu entschieden, einen verträumten Tag einzulegen. Anlass für die Festivitäten war die Sternsommernacht gewesen, die jedes Jahr aufs Neue den Frühling markiert, und in welcher der Nachthimmel von wilden, ungezähmten Sternenfeuern erhellt wird. Während das gemeine Volk jedoch stets weltlichen Gelüsten frönt, ob in qualmverhangenen Spelunken, beim Tanz um den ersten Spatenstich oder in gediegeneren Kreisen auf einem stilvollen Maskenball, bedeutete jenes Datum für Geistliche wie mich eine Nacht voller Prozessionen, Predigten und Gebete. Nachdem ich der freudengetränkten Rede des Mayors kurz beigewohnt und meinen priesterlichen Segen für den Beginn der Feier gegeben hatte, zog ich mich in den Tempel zurück und betete, bis mir die Knie wund und die Zunge matt waren, ganz, wie es die Heiligen Verse für den Klerus vorsehen. Dabei war es einerlei, ob der Geistliche der Hohepriester höchstpersönlich war oder, wie in meinem Fall, nur ein kleiner, unbedeutender Pater in einem noch kleineren und unbedeutenderen Dorf.

Das meine nannte sich Nebelhaim und lag auf einer stets windigen, spärlich bewachsenen Klippe am westlichen Zipfel Enderals. Seinen Namen verdankte es – wer hätte das vermutet – den blassen, feinen Nebelschwaden, die sich jeden Morgen über das Antlitz des Dorfes legten wie ein Trauerschleier über das Gesicht einer alten Witwe.

Ich erinnere mich noch gut an jenen letzten Blick, den ich mit den Augen des Mannes, der ich damals war, auf die kümmerlichen Häuser am Fuße des hoch gelegenen Tempelgebäudes warf. Nach dem unmelodischen Klanggeflecht aus Lautenmusik, angeregtem Gejohle und Korkenknallen hatte sich eine beinahe gespenstische Ruhe über das Dorf gelegt. Nur hier und da bewegte sich eine von dort oben kaum wahrnehmbar kleine Figur durch den kühlen Dunst, und selbst der Schornstein des Bäckermannes blieb still. Ich lächelte matt in das müde Gesicht des Dorfes, in dem ich großgeworden war. Mein Vater, ein durchschnittlicher Gerber, der eigentlich überhaupt nicht mein Vater war, hatte mich seiner eigenen Erzählung nach eines Tages in einem Korb liegend und in Leinentücher gewickelt nahe eines Wegesschreines auf der Nebelstraße entdeckt. Ich war ausgesetzt worden, und „voller Ergebenheit und dankbar über das göttliche Geschenk“ hatte mich der Mann ins Dorf mitgenommen, der später mein Vater werden würde. Bis zu seinem frühzeitigen Tod nur zehn Jahre später wurde ich aber das Gefühl nicht los, dass seine barmherzige Tat mehr dem Umstand geschuldet war, dass ich ausgerechnet unter den Augen einer Malphasstatue ausgesetzt worden war, und nicht seinem eigenen Kinderwunsch.

Gilmon der Gerber, wie er im Dorf genannt wurde, war ein feingliedriger Mann mit pockennarbiger Haut und schmaler Nase gewesen, dessen Misere seiner Meinung nach einzig und allein dem Umstand zu verschulden war, dass der Rest der Welt sich gegen ihn verbündet hatte. Wir hatten nie viel geredet, aber wenn wir es getan hatten, dann waren die Gespräche immer nach einem ähnlichen Muster abgelaufen. Er hatte mich mit seiner sägender Stimme zu sich ins Kaminzimmer gerufen, wo er meist steif sitzend mit zwei geleerten Krügen Bier vorzufinden war. Dann hatte er mir mit einer Handbewegung bedeutet, mich zu setzen und angekündigt, dass er sich nun mal ein „paar Dinge von der Seele reden müsse“. Der Umstand, dass ihm dafür einzig und allein sein Findelsohn als Gesprächspartner dienen könne, war natürlich ein weiterer Beweis dafür gewesen, wie übel ihm das Leben mitgespielt hatte. Hatte ich mich gesetzt, ging es los. Tjalmar der Jäger habe ihm zu horrenden Preisen ranzige Fette untergejubelt. Ein übler Halsabschneider sei das, aber das läge ja in der Natur der Aeterna, bloß dass man das auf Nehrim schon erkannt hatte, und auf Enderal nicht. Oder Matressa Zulja, die ihm bitteren Wein ausgeschenkt hatte. Ein durchtriebenes Weib war sie, oh ja, aber Malphas sei Dank habe er ihren Plan rechtzeitig durchschaut und ordentlich die Meinung gegeigt. Und natürlich die Zwillingsknaben des Schmiedes, Rashik. Bengel waren das, alle beide, ohne Respekt vor hart arbeitenden, wegestreuen Menschen wie ihm. Aber Manieren waren von einem Kohlemenschen und seiner Brut ja nicht zu erwarten. „Was haben die schon für Vorstellungen von Anstand“, hatte er sich einmal echauffiert. „Die tun doch eh den ganzen Tag nichts anderes, als zu vögeln bis die Betten krachen.“ Dass Rashik ein in der dritten Generation auf Enderal lebender Qyraner war und eine langjährige Gefährtenschaft mit seiner Geliebten den promisken Familienbunden seines Heimatlandes vorzog, machte dabei natürlich keinen Unterschied.

Diese Gespräche, sein stets saurer Atem und der Geruch von Rohhäuten, Leder und Tierfetten in der Werkstatt machten den Großteil meiner Kindheit aus. Freunde hatte ich wenige bis keine, was größtenteils der Tatsache zu schulden war, dass mich mein Vater nach der Vollendung meines fünften Lebensjahrs kräftig in der Gerberei anpacken ließ. Und wäre Mater Pyléa – dessen bin ich mir mittlerweile sicher – nicht eines Tages durch Zufall auf meine rasche Auffassungsgabe aufmerksam geworden, wäre ich auch am heutigen Tage noch dort, zwischen Tierabfällen, aufgespannten Häuten und glitschigem Fett. Ja, vielleicht wäre es nie zu dem seltsamen Erlebnis an jenem nebelverhangenen Morgen gekommen. Aber sie war darauf aufmerksam geworden, und so kam es, dass die betagte Priesterin am Tag meiner Pfadesweihe mit feierliche Stimme meinen heiligen Pfad proklamierte. Ich, Jaél Gerbersohn, wäre dazu auserkoren, mein Leben voll und ganz dem Glanze Malphas zu widmen – und zwar als Pater. Was das bedeutete, hatte ich damals natürlich nicht verstanden, aber aus den ehrfürchtigen Reaktionen der anderen Kinder, die mich bis dahin kaum bemerkt hatten, hatte ich geschlussfolgert, dass es wohl etwas Gutes gewesen sein musste.

So ließ ich, sehr zum Missfallen meines Ziehvaters, der diesen „Kindesdiebstahl“ als einen weiteren Verrat an ihm betrachtete, die trostlose Gerberei hinter mir und setzte nur noch zum Schlafengehen Fuß in das alte Haus am Dorfesrand. Rückblickend denke ich, dass die liebenswerte Mater die einzige positive Bezugsperson in meinem damaligen Leben war. Sie war es, die mich das Lesen und Schreiben lehrte, und sie war es, die mich in die Grundlagen der Kräuterkunde einwies. Mit Empathie und Härte zugleich brachte sie mir all das bei, was ich wissen musste, um Teil des endraläischen Klerus zu werden. Und zehn Winter später war es schließlich so weit gewesen. Mir wurde die Priesterschaft des kleinen Tempels übertragen, und fortan tat ich das, was ein ergebener Pater nun mal tat: ich hielt Messen, ich betete, ich hielt den Tempel im Stand, und ich nahm den Dörflern von Zeit zu Zeit ihre Beichten ab. Mater Pyléa verließ das Dorf an ihrem sechzigsten Namenstag, um ein Lebensabendquartier im Sonnentempel der Hauptstadt, die ich nur aus Erzählungen kannte, zu beziehen. Ein Jahr danach schied mein Vater dahin, ein Umstand, der mir überraschenderweise sehr nahe ging. Von da an verfiel alles in einen lethargischen Trott, bis zu jenem Tag hin.

War der Mann, der ich damals war, ein glücklicher gewesen? Ich vermag es nicht zu sagen. Wenn ich heute die ersten achtundzwanzig Jahre meines Lebens zurückzurufen versuche, erscheinen mir die Erinnerungen an sie wie verblassende Schrift auf einem alten Pergament. Meine Vernunft weiß, dass ich in gewisser Hinsicht gesegnet gewesen war. Das Leben eines Priesters war ein angenehmes, ohne Höhen und Tiefen, beständig. Ich hatte genug zu Essen und ein Dach über dem Kopf. Ich hatte genug Groschen, um mir von Zeit zu Zeit die käufliche Liebe einer Wanderhure zu erstehen. Und ich wusste, dass ich laut den Heiligen Versen am Ende meiner Tage in die Ewigen Pfade einkehren würde, meinen Pfad beschritten, meine Aufgabe erfüllt. Dennoch sollte es anders kommen.

Erst als ich mich an jenem schicksalhaften Morgen meiner Roben entledigte hatte und mich, bis auf die Knochen erschöpft, unter meiner weichen Schafwolldecke befand, bemerkte ich das seltsame, flaue Gefühl, das sich in meinem Magen breitzumachen begonnen hatte. Heute weiß ich, dass dieser unscheinbare Moment das erste Mal war, an dem ich dem Feuer begegnete. Es war klein, unbedeutend, nur eine schwächlich glimmende Glut, aber sie war da, wohl wissend, dass ich, sobald ich meine Augen schließen würde, als ein anderer Mann erwachen würde. An diesem grauen Morgen jedoch war ich zu müde, um ihr auch nur ein Fünkchen Aufmerksamkeit zu zollen. Erschöpft rollte ich mich in die Decke und glitt einige Momente später in einen bleiernen, tiefen Schlaf.

Und erwachte in einem Traum.

Ich befand mich auf einer idyllischen Waldlichtung, umgeben von grünen Eichenbäumen, deren Blätter sich sanft im Wind wogen. Die untergehende Sonne stand wie geschmolzene Glut am Horizont und warf einen rötlichen Schimmer über die Szenerie. Voller Genuss sog ich die würzige, frische Luft in mich hinein, die nach nassem Moos, Morgentau und alten Geheimnissen roch, ja, mysteriös, wild und ungetrübt wie das reine Leben selbst. Anders als ein jeder es jedoch aus den nächtlichen Reisen, die wir Träume nennen, kennt, war ich mir der Irrealität dieser Szenerie voll und ganz bewusst. Aber ich akzeptierte sie, als wäre sie so natürlich und selbstverständlich wie das Voranschreiten der Zeit. Ich selbst war splitternackt wie am Tag meiner Geburt, aber empfand jenen Zustand nicht als beschämend – im Gegenteil: Ich fühlte mich klar, voller Kraft und frei.

Erst als ich meinen Blick vom Himmel nahm und nach vorne richtete, sah ich sie. Sie stand inmitten einer alten, efeuüberwachsenen Ruine, deren eingestürzte Bögen und Mauern von vergangenen Zeiten kündeten. Sie trug eine graue, fließende Robe, welche die Weiblichkeit ihrer Silhouette darunter nur erahnen ließ. Ihre Kapuze war tief über ihr Gesicht gezogen, so dass von diesem nur die sanfte, fein geschwungene Wangen- und Kinnpartie zu erkennen war, die in ihrer Ästhetik der Fantasie eines qyranischen Malers hätte entsprungen sein können. Ihr mitternachtsschwarzes Haar war zu schlangenartigen Zöpfen geflochten und fiel dicht und voll auf ihre Schultern. Allerlei Dinge waren darin verflochten: alte, verblichene Münzen, die in verlorenen Zivilisationen geprägt worden sein mussten; kleine, fein geschliffene Knochen, die nur von uns unbekannten Tieren stammen konnten; und schließlich seltsame Bänder, deren farbige Fäden in ihrem Zusammenspiel kunstvolle Muster ergaben. All das war es jedoch nicht, das mich zu der verschleierten Gestalt in der Waldruine auf hypnotische Art und Weise hinzog, nein. Es war ihr Lächeln. Mit jedem Schritt, den ich auf sie zuging, zog es mich mehr in seinen Bann. Es war kein liebliches Lächeln, wie ein mancher an dieser Stelle wohl vermuten wird. Es war eine Mischung aus Melancholie, Zorn, Hoffnung und Liebe zugleich, eine Symphonie gegensätzlicher Gefühle, die ich bis zu jenem Zeitpunkt nicht vereinbar geglaubt hatte. Es war ein Lächeln auf einem Mund, der Worte großer Weisheit genauso mühelos sprechen konnte wie Befehle, die den Tod Tausender bedeuten würden. Ein Lächeln, das aus Wahrheiten geboren war, die in anderweltlichen Existenzen erkannt worden waren. Kalter Schweiß brach aus meinen Poren, und ich spürte, wie sich ein Gefühl der Beklommenheit mit der friedlichen Seligkeit des vorangegangenen Moments vermischte.

Einige Schritte vor ihr kam ich zum Halt, mein Blick immer noch an ihrem magischen Lächeln haftend wie der eines Hungernden an einem reichen Mahl. Für einen kurzen Moment meinte ich, eine Spur von Heiterkeit in ihren Zügen zu erkennen. Aber sie erlosch, so schnell wie sie gekommen war. Dann ergriff sie das Wort. „Du stirbst, Jaél.“ Ihre Stimme war rau und sanft zugleich, voller Gegensätzlichkeit. Sie sprach ohne Spott, ohne Bedauern und ohne Grausamkeit.

„Warum?“, hörte ich mich mechanisch erwidern. „Ich bin bei bester Gesundheit.“ Meine Antwort war so erbärmlich und plump, wie sie auf diesen vergilbten Seiten wohl klingen muss, aber die Worte entsprangen meinem Mund schneller, als ich sie gedacht hatte, ohne Kontrolle. Zu eingenommen war ich von der Gestalt vor mir. Die Frau nickte unmerklich, als habe sie jene Erwiderung erwartet.

„Du beteuerst, dass du bei voller Gesundheit bist“, wiederholte sie mit einem eigenartigen Tonfall meine vorangegangen Worte. „Aber du scheiterst daran, die Gefüge dieser Welt in all ihrer Verworrenheit zu erkennen.“ Sie schüttelte langsam und bedauernd den Kopf, wie eine Magistra in der Klosterschule, der ein Novize soeben eine überaus törichte Antwort auf eine einfache Frage gegeben hatte. Dann befreite sie ihre Hand aus den Ärmeln der Robe und bedeutete mir, ihr zu folgen. Auch ihr Gang hatte etwas außerweltliches an sich. Ihr Körper bewegte sich nicht mit den Schritten, sondern schien zu schweben. Stumm und ergeben folgte ich ihr durch die alte Ruine. Heute, wo ich jene Vision tausende Male in meinen Gedanken wiederbelebt habe, weiß ich, dass es sich um einen alten Handelsposten gehandelt haben musste. Die hohen Mauern und das rostige Tor ließen keine Zweifel daran. – Aber in der Vision selbst zollte ich derlei Banalitäten keine Aufmerksamkeit. Jener Gestalt vor mir zu folgen schien mein einziger Daseinszweck zu sein. Sie kam vor einem überwucherten, alten Turm, der einst das Herz jener Ruine gewesen sein musste, zum Stillstand und öffnete schweigend die gusseiserne Tür, die sich gespenstisch lautlos öffnete.

„Geh, Jaél“, sagte sie, „Geh und erkenne die Wahrheit.“ Das waren die letzten Worte, die ich bis zu jener grausamen Entdeckung in der geisterhaften Ruine hören sollte. Denn als ich gerade zu einer Erwiderung ansetzen wollte, war sie verschwunden. Erstmals mischte sich ein Gefühl der Unsicherheit in die Selbstsicherheit, die ich am Anfang der Vision noch empfunden hatte. Noch immer war ich mir der Tatsache vollkommen bewusst, dass mein physischer Körper in meiner bescheidenen Kammer in einer anderen Welt weilte. Und ich wusste auch, dass ich mich dazu entscheiden konnte, aus der wundervollen und schaurigen Vision zu erwachen. Aber ich tat es nicht. Warum, das vermag ich nicht zu sagen. War es Neugierde? War es jenes Gefühl der Schicksalsträchtigkeit, das über der seltsamen Lichtung und der Ruine lag wie eine hauchdünne, transzendente Hülle? Ich weiß es nicht.

Ich trat ein. Der Boden fühlte sich kalt unter meinen nackten Fußsohlen an, und die staubgeschwängerte Luft, nur von einem blassroten Sonnenstrahl von außen erhellt, brachte mich zum Husten, als sie in meine Lungen eindrang. Das Innere des turmartigen Gebäudes war beinahe leer, bis auf Spinnennetze, von der Verwitterung beinahe unkenntlich gemachten, alten Möbelstücken und zerborstenen Steinen, die sich aus dem Mauergefüge gelöst hatten und herabgefallen waren. In der Mitte stand eine hölzerne Konstruktion, die einer ungewöhnlich großen, aufrecht stehenden Kiste ähnelte. Zögerlichen Schrittes trat ich an sie heran. Ein Wort schoss mir durch den Kopf, aber es entglitt mir so schnell wieder, wie es gekommen war. Ich bemerkte, wie das Feuer der untergehenden Sonne mehr und mehr erlosch und von einem trüben Blau ersetzt wurde. Sanfter, dunstiger Nebel begann sich über die Szenerie zu legen, und alles, was ich vor dem Betreten der Ruine noch an Frieden und Seligkeit gefühlt hatte, begann von dem anfänglichen Gefühl der Beklommenheit ersetzt zu werden. Siechend, kalt, schleichend.

Meine Hand glitt über die Oberfläche der seltsamen Kiste, die mich um wenige Fingerbreit überragte. Das Holz war verfault und grau, und ihm entwich ein seltsamer Geruch. Eisern. Süßlich. Verlockend, betörend, und gleichzeitig abstoßend. Geh!, schoss es mir durch den Kopf. Geh, bevor du es entzündest. Inwiefern ich selbst es war, der diese Gedanken dachte, vermag ich nicht zu sagen. Aber ich ging nicht, natürlich ging ich nicht. Langsam fuhr meine Hand zum seitlichen Spalt der Konstruktion, mithilfe dessen ich den Deckel der Kiste zu öffnen vermochte. Erst als das Scharnier sich widerstrebend öffnete und dabei einen beinahe klagenden Laut von sich gab, erschien mir das erneut Wort, dass mir just entglitten war. Diesmal verschwand es nicht, nein, diesmal verharrte es in all seiner Scheußlichkeit. Die hölzerne Konstruktion inmitten dieser verlassenen Ruine war keine Kiste. Sie war ein Sarg.

Das Grauen, was mir aus dem fauligen Inneren des Sarges entgegen starrte, vermag ich noch heute schwer in Worte zu fassen. Ohne Zweifel handelte es sich bei der Kreatur vor meinen Augen um mich selbst. Da war es, das sich trotz meiner achtundzwanzig Winter bereits lichtende, braune Haar. Da war er, der wohlgestutzte, dichte Bart, der mir bis zur Brust hinabfiel, und mit dem ich mein unscheinbares, längliches Gesicht zu kaschieren versuchte. Und da war sie, jene krumme Nase, die meinem Gesicht das geierartige Aussehen verlieh, für dass ich mein Spiegelbild meist mied. Aber der Körper im Sarg war tot, verkrampft wie im Moment des Sterbens. Eingepfercht wie totes Vieh in den Vorratskammern eines Fleischers wurde sein Kopf durch die knappen Ausmaße des Sarges zu seiner Schulter gedrückt, als würde er mich fragend und klagend anstarren. Sein Körper war ausgemergelt, seine Arme in einer verrenkten, kantigen Haltung an den Körper gepresst. Viel grauenvoller war jedoch sein Gesicht. Die Haut trug das blasse, grünliche Grau vermoderter Grabsteine und wies an etlichen Stellen klaffende Risse auf, die trotz ihrer Tiefe nicht zu bluten schienen, sondern bares Fleisch und weiße Knochen offenbarten. Der Bart war kraus und wild, und Maden räkelten sich durch das wirre Geflecht, eine eitrige, zähe Flüssigkeit absondernd, die wie das Totenwasser einer just geborgenen Wasserleiche auf den kalten Steinboden tropfte. Die Wangen des Mannes waren eingefallen, und sein zersprungener Mund, verfaulte Zähne und eine gräuliche Zunge offenbarend, war auf eine schiefe Art und Weise geöffnet, so dass sich der Eindruck eines gequälten Lächelns ergab. Aber all dies war es nicht, was den markerschütternden, panischen Schrei aus meiner Kehle entfesselte: Es waren die Augen. Oder besser gesagt, jener Ort, wo bei einem gesunden Menschen die solchen zu finden waren.

Denn das waren sie nicht. Kraftlos und blass wie Leichentücher hingen die ihres Sinns beraubten Lider in das gaffende Schwarz, das mir, jeder Logik entbehrend, entgegenzustarren schien, flüsternd, siechend und tot. Die gleiche eitrige Flüssigkeit, die in dem Bart des Mannes hing, tropfte von seinen Brauen herab und verschwand in dem Nichts der leeren Höhlen. Nein ... keine Worte können den Schrecken beschreiben, der mich mit erdrückender Wucht ergriff, als mir die deformierte Kreatur entgegenstarrte.

Panisch versetzte ich meinem verwelkten Ebenbild einen gewaltsamen Stoß, bewirkte dadurch aber nur, dass die Leiche sich aus dem Sarg löste und mir entgegen fiel. Ich spürte, wie das widerliche, eitrige Leichenwasser aus dem Bart meine Lippen streife, während eine Handvoll Maden durch den Sturz von dem Kadaver geschüttelt wurden und auf meiner Schulter landeten. Für einen kurzen Moment war ich wie gelähmt. Ich hielt mich selbst in den Armen, wie ein Zwilling seinen verstorbenen, verwesten Bruder, nur dass jener Zwilling kein geringerer als ich selbst war. Erst, als die Maden meinen Hals empor zu kriechen versuchten, stieß ich die Leiche mit einem gellenden Schrei von mir, fegte die Maden von meinem Nacken und flüchtete panisch aus der Ruine.

Draußen war es mittlerweile Nacht, und der volle Mond stand kühl, weiß und unbewegt am Himmel. Der Nebelschleier, der sich in der Ruine gebildet hatte, verging jedoch augenblicklich, als ich wieder in die Freiheit gelangte und mich schwer atmend und weinend auf den Boden fallen ließ. Ich bin tot, schoss es mir durch den Kopf, immer und immer wieder. TOT! Ich stieß einen panischen Schrei aus, ein kläglicher Versuch um den Wahnsinn aus meinem Geist zu verbannen. Erfolglos. Der Schrecken blieb haften, er war allgegenwärtig, und ich spürte, wie sich bittere Tränen der Angst ihren Weg aus meinen Augen bahnten. Was beim rechten Weg hatte das zu bedeuten? Was war das für ein Alptraum, in dem ich steckte? Ein mancher mag sich an jener Stelle fragen, weshalb ich die Vision nicht durch den altbekannten physischen Stimulus, mich selbst zu zwicken, nicht beendete, allem voran, da ich mir der Irrealität des Geschehenen vollkommen bewusst war. Die Antwort ist, dass ich es nicht konnte, und dies auch wusste. Was ich erlebte, war keines jener ordinären, nächtlichen Phantasmen, die uns alle bisweilen in den stillen Stunden heimsuchen. Etwas, dessen Natur ich später zumindest ein wenig zu verstehen beginnen sollte, wollte mir etwas zeigen, und ich konnte der Wahrheit nicht entfliehen, nein, ich konnte ihr so wenig entfliehen, wie ein Mensch dem Sand der Zeit zu entfliehen vermochte. Als ich meinen Blick wieder vom Boden wandte und orientierungslos und hilflos schluchzend auf den Torbogen in Richtung des Waldes zuzukriechen begann, sah ich sie wieder. Es war die verschleierte Frau. Fast bemitleidend stand sie über mir und sah mich an. Zumindest vermutete ich das, denn trotz meines Blickwinkels konnte ich oberhalb ihrer Wangen nichts als den unnatürlichen Schatten ihrer Kapuze erkennen.

„Was bist du?“, brachte ich mit schwacher Stimme schließlich hervor. „Was, beim rechten Weg, bist du? Ein Dämon? Ein Todesengel?“ Es klang kümmerlich, wie das Lamento eines verzweifelten Kindes.

„Du fragst mich, wer ich bin“, antwortete sie wieder, ein Echo meiner kläglichen Worte. „Und du vermutest, dass ich ein schwarzer Engel deines Gottes sei, gekommen, um dich zu bestrafen. Aber“ – ein Hauch mütterlicher Sanftheit mischte sich in ihre raue Stimme – „du stellst die falsche Frage, Jaél. Denn wer ich bin, ist nicht von Bedeutung.“ Einen Moment lang sah ich sie verwirrt an, unfähig auf ihre kryptische Antwort zu reagieren.

Einige Momente verharrte ich regungslos am Boden, mein Atem hektisch und panisch, und starrte die verschleierte Frau vor mir an. Erst eine gefühlte Ewigkeit später stellte ich die Frage, die gestellt werden musste.

„Und was ... was ist die richtige Frage?“

Für einen kurzen Moment meinte ich, ein trauriges Lächeln auf ihren Lippen zu erkennen. „Du erfragst von mir das, was du nur selbst herausfinden kannst“, sagte sie und setzte sich in Richtung des Steinbogens in Bewegung. „Und ich will dir einen Rat geben.“ Sie hielt inne, nur noch eine unwirkliche Gestalt im Silber der Nacht. „Einen Rat, wie du dem Tod deiner Seele entgehen kannst.“ Einen Moment lang herrschte Stille. „Beende dein falsches Leben. Und folge dem Feuer.“

Dann brach die Vision zusammen.