Enderal:Der Schlächter von Ark, Buch 5: Qalian

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Kapitel 5: Qalian

Der Mann vor mir überragte mich um einen halben Kopf und hatte eine athletische, aber nicht grobschlächtig wirkende Statur. Seine Augen waren pechschwarz und glänzten. Ins Auge stach mir jedoch sein Lächeln. Es war ein eigentümliches, schiefes Lächeln, und es erweckte in mir den Eindruck, dass nichts diesen Mann zu beeindrucken vermochte. Nicht naiv wie das eines Kindes, aber auch nicht zynisch wie das eines alten Mannes, der zu viel gesehen hatte.

Da stand er also, und wir beide gaben ein absurdes Bild ab: ich, ein dürrer, hässlicher Mann, auf der Leiche eines Hünen kniend, die Hände blutüberströmt, das Gesicht apathisch und die Tatwaffe neben meinen Füßen; er, groß, gutaussehend und elegant gekleidet, mit verschränkten Armen und mich neugierig musternd.

Plötzlich brach ich in berstendes Gelächter aus. Ich warf meinen Kopf in den Nacken und begann zu lachen, laut und schallend, das Lachen eines Mannes, den die Situation, in der er sich befindet, derart überfordert, dass sein Gehirn sich nicht anders zu helfen weiß. Ich versuchte, von der Leiche hinabzusteigen, und rutschte aus, als meine Hände auf dem blutgetränkten Boden keinen Halt fanden. Der Länge nach fiel ich auf den toten Körper unter mir und spürte, wie sich dessen noch warmes Blut auf meiner Haut verteilte. Du hast nicht aufgegessen, schoss es mir durch den Kopf. Böser Jaél!

Anstatt mich in die Realität zurückzuholen, befeuerte dieser unsinnige Gedanke mein wahnsinniges Lachen nur umso mehr. Ich rollte mich auf den Rücken, hielt mir den Bauch und rang nach Luft. Der Mann, dessen Namen ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht kannte, reagierte ebenfalls eigentümlich. Erst rieb sich mit Daumen und Zeigefinger das Kinn und furchte seine Augenbrauen. Er wirkte wie ein Bauer, dessen Schaf gerade begonnen hatte, wie vom Schwarzen Wächter gebissen im Kreis zu hüpfen und dabei wie von Sinnen zu blöken. Dann aber stimmte er in mein Lachen ein. Für mich – oder dem, was mein vollkommen überforderter, verwirrter Verstand zu diesem Zeitpunkt war, machte all das die Situation nur noch absurder, und ich schnappte gierig nach Luft, als meine Lungen mir vor lauter Lachen zu versagen drohten. Dann, als heiße Tränen meine Wangen herunterzulaufen begannen, hörte ich ein dumpfes Geräusch. Mir wurde schwarz vor Augen, und ich verlor das Bewusstsein.

~

Ich erwachte mit einem metallenen Geschmack im Mund. Meine Augenlieder waren schwer und verklebt, und als ich sie öffnete, war meine Sicht verschwommen.

Ich befand mich in einem Wald, genauer gesagt unter einem kleinen Vorsprung, dessen Mutterfelsen sich inmitten eines Meeres dunkler Pinienbäume befand. Außerhalb des Schutz spendenden Vorsprungs prasselte der Regen in Strömen herab, und wäre nicht das gleißende Feuer gewesen, das sich einen guten Arm weit von mir entfernt befand, hätte ich vermutlich gefroren. Ich versuchte meinen Blick zu wenden und meine Umgebung gesamtheitlicher zu erfassen, aber ein beißender Schmerz explodierte in meinem Hinterkopf, als ich es versuchte. Ich keuchte und kniff instinktiv Augenlider und Lippen zusammen.

„Guten Abend“, vernahm ich plötzlich eine Stimme irgendwo in meiner Nähe.

Erschrocken versuchte ich erneut, meinen Blick zu ihrem Ursprung zu wenden, nur um mit einem umso heftigeren Schmerz bestraft zu werden. Diesmal entwich mir ein kleiner Schmerzensschrei, den die Stimme neben mir mit einem Lachen quittierte. Dann hörte ich, wie sich jemand aufrichtete und in Bewegung setzte. Schließlich kamen die Stiefel der Figur in mein Blickfeld, und sie ging vor mir in die Knie.

Es war der Schönling. Er hatte seine kinnlangen Haare zu einem kurzen Männerdutt zusammengebunden, was ihm in Kombination mit seinem Bart das Aussehen eines arazealischen Mönches verliehen hätte, wäre da nicht die elegante Kleidung gewesen.

„Tut mir Leid wegen der Beule“, sagte er und lächelte entschuldigend. „Da habe ich es wohl etwas übertrieben.“

Verwirrt sah ich den Mann an. Meine Erinnerungen an die Ereignisse des Vortags waren verschwommen und verblichen. Die Taverne … die Demütigung durch die beiden Muskelprotze. Mein Racheplan … der Stall.

Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitzschlag einen morschen Baum auf einer Lichtung.

Ich hatte ihn umgebracht. Massakriert.

Ich presste meine Hände vor meinen Mund und spürte, wie ich am ganzen Leib zu zittern begann. Dann traf mich jedes Detail der gestrigen Nacht mit der Wucht eines Hammerschlags. Wie der Hüne mich auf frischer Tat ertappt und zu Boden geschmettert hatte. Die Schmerzen, als er mit dem Stiefel immer und immer wieder auf mich eingetreten hatte, und das Aufsteigen lodernder Wut. Dann das schmatzende Geräusch, als mein Dolch in den mir zugewandten Rücken eingedrungen war, sein fassungsloser Gesichtsausdruck, sein stummes Flehen nach Gnade, mein Rausch, meine Genugtuung, meine Ekstase, die sich mit jedem Dolchstoß gesteigert hatte.

Ohne Vorwarnung erbrach ich mich auf meinen eigenen Kleidern. Ich hustete und würgte, und spürte, wie mir zeitgleich Tränen in die Augen stiegen. Abgeschlachtet. Du hast ihn abgeschlachtet!, schoss es mir durch den Kopf, immer und immer wieder. Ich war derart versunken in meinen Gedanken, dass ich um die Existenz des Mannes neben mir vollkommen vergaß, bis meine Erinnerungen an dem Punkt angelangt waren, an dem ich mein Bewusstsein verloren hatte. Fassungslos starrte ich mein Gegenüber an.

Er hatte sich keinen Fingerweit von der Stelle bewegt und kniete nach wie vor neben mir. Sein Mund lächelte, aber seine Augen blieben vollkommen ernst, beinahe andächtig. Was hatte das zu bedeuten? Hatte der Mann mich niedergeschlagen? Er musste es getan haben … und mich ebenfalls hierher gebracht haben. Aber … warum?

Als hätte er meine Frage aus meinen Augen gelesen, löste er sich aus der Starre. Er schüttelte den Kopf, lächelte und deutete dann auf ein kleines Täschchen, das direkt neben meiner Schlafmatte lag. Verunsichert sah ich ihn an, und sein Grinsen wurde breiter. „Was ist? Du schaust mich ja an als wär ich Dal’Thalgards Geist höchstpersönlich.“

Ich spürte, wie ein wenig meiner Anspannung von mir abfiel. Dennoch brachte ich kein Wort aus meiner Kehle, woraufhin der Mann vor mir seine Lippen schürzte.

„Du solltest du mal in den Beutel schauen. – Es sei denn, du schmückst dich gern mit deinem eigenen Erbrochen“, sagte er und deutete erneut auf die Tasche.

Erst jetzt kam ich seiner Aufforderung zögerlich nach, griff in die Tasche und brachte ein großes, blau und weiß besticktes Stofftuch daraus zum Vorschein. Wieder wandte ich meinem Blick dem Mann zu, wie ein Kind, dem eben etwas gegeben worden war, das es nie zu vor in den Händen gehalten hatte.

Mein Gegenüber furchte skeptisch die Augenbrauen, und erst jetzt begriff ich, wie seltsam mein Verhalten ihm erscheinen musste. Muss es das? Er hat mich schließlich hierher gebracht. Und er weiß, was passiert ist. Widerwillig richtete ich mich auf begann im Schneidersitz, mir mit dem Tuch die Überreste des gestrig verzehrten Flüsterkrauts von meiner Robe zu wischen.

Der Mann beobachtete jede einzelne meiner Bewegungen aufmerksam. Dann stand er auf und wandte sich dem prasselnden Feuer zu, auf dem, wie ich erst jetzt bemerkte, etwas köchelte. Trinken. Mein Mund schmeckte unangenehm bitter von meiner Galle, und meine Kehle war trocken wie die Dünen der Pulverwüste. Für einen Moment spürte ich Hunger, aber sofort kamen mir die gestrigen Ereignisse vor Augen, und der Appetit verging mir schlagartig. Der Mann schöpfte mit einer Kelle etwas aus dem Kessel über der Flamme, und ein schwacher Windhauch trug einen angenehmen Geruch von Zuckerminze und Honig zu mir hinüber. Dann wandte er sich mir wieder zu, in jeder Hand einen leicht zerbeulten Becher. Er reichte mir einen davon und ließ sich auf einem kleinen Baumstumpf nieder.

„Es ist nur das erste Mal so schlimm.“

Ich zuckte zusammen. „... Wie meinen?“

„Du verstehst mich schon.“

Für einen Moment schweifte sein Blick ab. Dann schüttle er kaum merklich den Kopf und wandte sich mir wieder zu. „Aber wo bleiben meine Manieren?“ Er klopfte sich mit der Faust gegen die Brust, ein militärisches Salut, dass mir an ihm unpassend erschien.

„Ich bin Qalian.“ Er sah mich erwartend an, und als keine Erwiderung kam, fuhr er fort. „Und du?“

Zuerst war ich geneigt, dem Mann einen falschen Namen zu nennen. Dann besann ich mich aber eines Besseren.

„Jaél. Jaél Geberssohn.“

Der Mann streifte kurz seinen Handschuh ab, reichte mir seine Hand, und ich schüttelte sie. Sein Händedruck war warm und kraftvoll.

„Jaél also. Sehr erfreut.“ Er lächelte und sah mir dabei ohne zu Blinzeln geradewegs in die Augen. Ich spürte einen Schauer der Ehrfurcht meine Wirbelsäule herunterjagen. Was für eine Ausstrahlung. Ich dachte kurz an die junge Frau, die Qalian gestern gegenüber gesessen hatte und verstand nun den ergebenen Blick, mit dem sie ihn angesehen hatte.

Beklommen senkte ich den Kopf. Für einen Moment beneidete ich Qalian um sein Aussehen, sein Auftreten und seine gewinnende Art. Trotz der tausend Fragen, die mir über ihn in meinem Kopf herumgeisterten, kam ich nicht darum, den Fremden zu mögen, und ich war mir sicher, dass ich nicht der Einzige war, dem es so ergehen musste. Er strahlte eine Abenteuerlichkeit aus, mit der man das Schicksal hätte herausfordern können.

Qalian zog seine Hand zurück und nahm einen Schluck Tee.

„So. Wo fangen wir an?“

Ich sah ihn hilflos an.

„.Wo…“ Ich schluckte. „Womit?“

„Na, mit den Fragen.“ Er schmunzelte. „Du kannst mir nicht erzählen, dass du keine hast.“

Er sah mich kurz abwägend an. „Oder vielleicht sollte ich den Anfang machen. Woher kommst du, Jaél? Du siehst nicht aus wie ein Mann von Welt.“

„Aus ... aus einem kleinen Dorf“, erwiderte ich vorsichtig. Als Qalian als Reaktion jedoch nur die Augenbrauen hochzog und mich fragend ansah, fügte ich „Nebelhaim“ hinzu.

„Nebelhaim also. Kein sonderlich aufregender Ort.“

Diesmal war ich es, der die Augenbrauen hochzog. „Ihr kennt Nebelhaim?“

Qalian machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich habe dort mal auf einer ... Mission Halt gemacht. Ihr habt eine beschauliche Taverne.“ Er lächelte. „Und ein paar schöne Frauen.“

„… Ja, sicherlich.“ Was bei Malphas will dieser Kerl von mir? Er hatte mich gestern inmitten meiner Tat ertappt. Er weiß es. Und jetzt plänkelten wir wie zwei Jäger, die sich auf einen Krug Met in einer Schenke kennengelernt hatten. Ich beschloss, einen Vorstoß zu wagen. Nicht aus Mut oder Kühnheit, sondern weil ich die Unausgesprochenheit der Worte nicht mehr ertrug.

„Hör ... Qalian.“ Ich spürte, wie sich ein Kloß in meinem Hals bildete und trank rasch einen Schluck meines Tees, der, wie ich feststellte, derart heiß war, dass ich mich fragte, wie mein Gegenüber ihn hatte trinken können, ohne sich die Lippen zu verbrennen.

„Wie komme ich hierher?“

Qalian lächelte nachsichtig. „Ich habe dich hergebracht.“ Er schien meinen irritierten Gesichtsausdruck zu bemerken und fügte hinzu: „Nachdem ich dich niedergeschlagen habe. Sagen wir, du hattest deine Schwierigkeiten, mit der Situation angemessen umzugehen.“

Kurz herrschte Stille. Dann sagte er: „Um die Leichen habe ich mich gekümmert.“

Das Wort traf mich wie ein Hammerschlag, und ich spürte, wie eine Ladung Galle erneut Anstalten machte, meine Speiseröhre emporzuschießen. Diesmal gelang es mir jedoch, den Brechreiz zu unterdrücken. Das Ergebnis war ein widerwärtiger Geschmack auf meiner Zunge. Ich hustete und sah den Mann vor mir schließlich mit verunsicherten Augen an. Er redet, als wäre das alles vollkommen normal! Aber das war es nicht, verflucht nochmal! Ich hatte ein Verbrechen gegangen, und schlimmer als das Verbrechen selbst war die Art und Weise, in der ich es vollzogen hatte! Ich bin ein Monster! Ein gottverdammtes Monster!

Als hätte er meine Gedanken gelesen, beugte er sich ein Stück vor.

„Ich weiß, was du jetzt denkst, Jaél. Du fühlst dich schuldig, richtig? Du hältst dich für ein Monster oder dergleichen.“

Ich sah ihn verunsichert an. Dann wand ich meinen Blick ab, was er als Zustimmung zu interpretieren schien.

„Dann schlag dir diesen Unsinn mal aus dem Kopf. Was du getan hast, war das einzig Richtige.“

Ein trauriges Lachen entwich meiner Kehle. „Das Richtige?“

„Ja. Aber warte.“ Er rieb sich sein Kinn mit Daumen und Zeigefinger und sah kurz in das Feuer.

„Lass mich dir eine Geschichte erzählen. Dann wirst du verstehen.“

Ich nickte, überflüssigerweise, denn er begann bereits zu erzählen.

„Es war einmal eine Familie. Insgesamt waren es fünf Leute. Eine Frau, ihre beiden Männer, und zwei Kinder.“ Er schien zu bemerken, dass ich die Stirn runzelte. „Und sie kamen aus Qyra. In Qyra lebt man nämlich anders als hier, weißt du? Dort gibt es nicht nur die Zweierbünde der Gefährtenschaft, sondern auch Menschen, die in größeren Familienbünden, genannt Zirkel, zusammenleben. In jedem Fall …“ Er pausierte kurz und nahm einen Schluck seines Tees. „… hatte diese Familie nicht viel Glück im Leben gehabt. Einer der beiden Männer, genannt Keshan, hatte kürzlich seine Arbeit auf einer Zuckerrohrplantage unmittelbar vor Al-Rashim, der Hauptstadt des Landes, verloren. Auch die Frau, die bei einem reichen Handelsmann als Weberin gearbeitet hatte, verblieb ohne Arbeit, nachdem ebendieser Händler in einen wirtschaftlichen Engpass geraten und gezwungen gewesen war, ihre Stelle aufzulösen. Allgemein war die Lage in Al-Rashim schwierig. Die Straßen waren gefährlich, die Fleischmadenseuche wütete, und es war keine gute Zeit für einen Zirkel mit zwei Kindern und keinem müden Penyal in der Tasche. Also beschlossen sie, ihr Glück woanders zu versuchen.“

Seine Augen schwenkten in die Ferne. „In eine neue, bessere Welt. In ein neues Leben. Und deshalb“ – er wandte sich mir wieder zu – „reisten sie von ihrem letzten Ersparten nach Enderal. In Ark angekommen, bemerkten sie jedoch, dass das Leben hier nicht so war, wie sie sich es vorgestellt hatten. Die Preise waren selbst im Fremdenviertel für sie unbezahlbar, und bis auf einen der Männer sprach keiner im Zirkel Endraläisch. Deshalb zogen sie in die Unterstadt.“

Für einen kurzen Moment meinte ich so etwas wie Melancholie in seinen bernsteinfarbenen Augen zu erkennen. „Kennst du die Unterstadt, Jaél?“

„Ich … habe davon gehört, ja.“

Er nickte. „Gut. Dann weißt du ja sicherlich auch, dass sie kein sonderlich familienfreundlicher Ort ist. Die Straßen sind gefährlich, Mord und Erpressung sind an der Tagesordnung. Es ist ein Elendsviertel, und das Zynischste an ihm ist, dass sich die Höhle, in der es errichtet worden ist, sich genau unter dem Arker Oberviertel befindet, wo Adelsmänner Maskenbälle feiern und über Ethik und Moral philosophieren.“ Bei dem letzten Teil seines Satzes durchzuckte eine Wut Qalians Augen. Sie blieb einen Moment und verschwand dann wieder, so schnell sie gekommen war.

„Jedenfalls bezog die kleine Familie eines der brüchigen Kastenhäuser in einer Gasse, die sich Kanalstraße nannte. Die Straße war genau wie ihr Name vermuten lässt – stinkend, dunkel und schmal. Es war beim besten Willen nicht der Neuanfang, den sich der Zirkel vorgestellt hatte, aber dennoch ließen die drei Eltern sich nicht entmutigen. Sie wussten, dass ein neues Leben oft mit Hürden verbunden ist, und sie waren entschlossen, diese zu überwinden.

Außerdem gab ihnen der Glaube zu Irlanda Kraft. Sie hatten einen kleinen Schrein in ihrem winzigen Häuslein errichtet, das eigentlich nur aus einem großen, mit Stofftüchern abgetrennten Raum bestand. Jeden Abend beteten sie dort zu ihrer Göttin, und aus ihrem Andenken zogen sie Mut und Stärke. Und tatsächlich schien sich alles zum Besseren zu wenden, als Keshan eine Anstellung bei einem Bauer vor den Mauern der Stadt bekam. Nun magst du vielleicht nicht verstehen, wie eigentümlich so etwas tatsächlich ist. Aber lass mich dir sagen: Dass ein Unterstädter, und dazu noch ein dunkelhäutiger, die Gelegenheit zu einer festen, ehrlichen Arbeit bei einem Bauern im Herzland bekommt, ist ungefähr so wahrscheinlich, wie dass ein Vatyr Lesen und Schreiben lernt.

Keshan wusste darum, denn wenn er und sein Zirkel eines gelernt hatten, dann dass es viele Menschen gab, die ihn und seine Familie allein ihrer Herkunft wegen hassten. Und nicht nur die Oberstädter. Selbst ihre Nachbarn riefen ihnen auf der Straße ‚Vielficker‘ oder ‚Kohlemensch‘ hinterher. Denn so ist das in dieser Welt, mein Freund. Die Menschen fürchten sich vor dem, was sie nicht kennen, ob es nun ein Familienbund mit mehreren Eltern, ein Aeterna oder ein Mensch mit schwarzer Haut ist. Alles Fremde erscheint erst einmal gefährlich.

Aber gerade deshalb legte Keshan sich umso mehr ins Zeug. Jeden Morgen stand er noch weit vor dem ersten Hahnenschrei auf und nahm den langen, beschwerlichen Weg zum Hof des Bauern auf sich, bei dem er arbeitete. Und erst als die Sonne schon lange hinterm Horizont verschwunden war, kam er zurück. Die Arbeit war hart, aber dennoch war er dankbar um die Möglichkeit, ihm und seiner Familie, insbesondere seinen beiden Kindern, ein besseres Leben zu schenken.“

Qalian hielt kurz inne, griff nach einem Holzscheit und warf diesen in das Feuer. Dann fuhr er fort.

„Aber so sollte es natürlich nicht kommen. Denn unter all den noblen Menschen, die in Ark leben, gibt es eine … wie soll ich sagen? – Eine ‚Gruppierung‘. Sie nennt sich die Zitadelle und sie sieht sich als ‚Bastion‘ traditioneller Werte, wie sie es nennen.

Und irgendwann hörten auch sie von dem Kohlemenschen, der einem hart arbeitenden, ehrlichen Endraläer die Anstellung als Landknecht auf dem Hofe des Bauern weggeschnappt hatte. Den Anhängern der Zitadelle war klar, was sie tun mussten. Und eines Nachts, als Keshan gerade zu seinem Häuschen in der Kanalgasse zurückkam, spürte er, dass etwas nicht stimmte. Er konnte seinen Argwohn nicht begründen, aber er spürte es einfach, so wie eine Mutter spürt, wenn ihrem Sohn etwas zugestoßen ist.

Was genau, fand er in dem Moment heraus, in dem er sein Haus betrat. Alle waren tot. Seine beiden Kinder, Lilyea und Garral. Sein Mann, Jashek. Und seine Frau, Zamira. Erstere fand er in einer Ecke zusammengekauert und in ein blutiges Stofflaken gehüllt. Lilyea hatte man die Kehle durchgeschnitten, und Garral die Oberschenkelaterie. Jashek schien gekämpft zu haben, denn er hatte mehrere Stiche in die Brust abgekommen, bevor man ihn geköpft hätte. Und Zamira lag flach auf dem Tisch, die Hände vor ihre Augen gehalten, und das Blut zwischen ihren Beinen ließ keine Fragen offen, was man ihr vor ihrem Tod angetan hatte. Und gerade, als Keshan schreien wollte, spürte er einen brennenden Schmerz im Rücken. Und schließlich ging er tot zu Boden.“

Den letzten Teil der Geschichte hatte Qalian erzählt, ohne dabei mit einer Wimper zu zucken. Ich sah ihn fassungslos, ratlos an. Wieder hielt er meinem Blick stand ohne zu Blinzeln.

„Sag mir, Jaél, was halst du von meiner Geschichte? Gefällt sie dir?“

„Ist sie ... wahr?“, fragte ich aus Ermangelung einer besseren Erwiderung.

„Ja. Sie ist wahr.“

Ich sah Qalian ratsuchend an. Was zum Geier erwartet er von mir?

„Das ist schrecklich.“

Qalian nickte. „Richtig. Und was würdest du nun sagen, wenn ich dir verraten würde, dass die beiden Männer, die wir gestern getötet haben, Mitglieder der Zitadelle waren?“

Ich erstarrte zu Stein und spürte, wie sich mein ganzer Körper versteifte. „Bitte?“

„Die beiden Affen, die tot am Boden des Weihers liegen.“ Mir fiel nicht auf, dass er genau dasselbe Wort für sie verwendete wie ich in meinen Gedanken. „Sie waren Mitglieder der Zitadelle. Und sie haben die Familie des Qyraners ermordet. Natürlich alles für das höhere Gut.“ Wieder diese gleißende Wut in seinen Augen.

„Ich verstehe nicht“, erwiderte ich, obwohl ich verstand.

Qalian verengte die Augen zu einem Schlitz. „Doch, du verstehst. Salbor und Adreyu Mithal. Beides Söhne eines reichen Fürsten aus dem Endraläer Norden. Und Mörder.“

Für einen kurzen, irrationalen Moment spürte ich, wie mich eine Welle des Triumphes durchflutete. Sie hatten es verdient zu sterben! Meine Mundwinkel zuckten. Dann jedoch drängten sich die grausamen Bilder wieder vor meine Augen, und die Erinnerung war wieder da. Die Erinnerung an die Freude, die ich empfunden hatte, als ich den Mann erstochen, ja, massakriert, hatte. Das Blut …

„Aber ich wusste nichts davon. Und selbst wenn, dann …“ Ich brach mitten im Satz ab und senkte meinen Blick. Wie sollte ich nur ansatzweise beschreiben, was ich fühlte?

Einen Moment lang herrschte Schweigen zwischen uns. Ich wollte gerade zu einer Frage ansetzen, da tat Qalian etwas Unerwartetes. Bevor ich recht wusste, was mir geschah, war er plötzlich unmittelbar vor mir, sodass unsere Gesichter nur noch knappe zwei Hand weit voneinander entfernt waren. Ich wäre zurückgewichen, aber etwas an Qalians Blick lähmte mich. Ich war unfähig mich zu bewegen, wie zu einer Wachsfigur erstarrt. Für einen kurzen Augenblick konnte ich die Veränderung in ihm nicht genau einordnen. Dann bemerkte ich es.

Seine Augen loderten. Erst meinte ich, dass es sich um eine Reflexion des Lagerfeuers handeln musste, aber als ich begriff, dass Qalian mit dem Rücken zum Feuer stand, wurde mir klar, dass seine Augen tatsächlich ihre Farbe geändert hatten. Sie wirkten wie glühende Kohlen, wie ein Kerzendocht einen Sekundenbruchteil bevor er entflammt. Auch sein Gesicht hatte nichts mehr von der Jovialität, von der es die vergangenen dreißig Minuten geprägt gewesen war.

Dann begann er zu sprechen, leise, aber dennoch klar verständlich, und in einem Tonfall, der mir trotz der Hitze des Feuers einen kalten Schauer die Wirbelsäule herunterjagte.

„Dieser Abschaum hatte es verdient, zu sterben, Jaél. Sie waren verdorben.“ Er machte keine Anstalten, das letzte Wort zu erklären. „Ich war im Roten Ochsen, weil ich für ihre Tötung erwählt worden war. Und indem du mir zuvorgekommen bist, hast du mir und der Welt einen Gefallen getan.“

Ich weiß nicht, woher ich die Kraft nahm, in diesem Moment zu antworten, aber irgendwie tat ich es, wenngleich meine Worte nicht mehr als ein Flüstern waren, gleich denen eines Todgeweihten am Sterbebett.

„Aber ich habe es genossen.“

Ich spürte, wie ein schrecklicher Ekel vor mir selbst wieder Besitz von mir ergreifen wollte. Eine flaue Angst, die Last auf der Psyche eines Mannes, der weiß, dass er etwas Grausames getan hat. Meine Schultern sackten in sich zusammen, und ich senkte meinen Kopf, so als hätte ich soeben nicht Qalian, sondern Malphas selbst von der Ekstase, die ich während der Tötung empfunden habe, erzählt.

Aber Qalian ließ es nicht zu. Als hätte er bemerkt, was im Begriff war, in mir zu geschehen, legte er seine Rechte auf meine Schulter und drehte mit seiner Linken mein Gesicht so, dass ich ihn direkt ansah. Dann sprach er, langsam und klar.

„Ich weiß, Jaél. Und weißt du auch warum?“

Er ließ mir keine Zeit für eine Erwiderung.

„Weil du gespürt hast, was sie getan hatten. Du hast ihre Verbrechen gespürt, und ihre Schuld. Und der Rausch war die Belohnung für deinen Mut“ Er schwieg einen kurzen Moment. „Es war der Nektar ihrer Sünden.“

Dann, mit einem einzigen, flüchtigen Augenblick, war es wieder vorbei. Das Glimmen in Qalians Augen war verschwunden, er hatte sich wieder zurückgelehnt, und ein Blick auf sein jetzt wieder sympathisches Gesicht ließ mich daran zweifeln, ob mir mein Verstand nicht eben einen Streich gespielt hatte. Er schwieg.

Nach etlichen Minuten des Schweigens ergriff ich das Wort und stellte die entscheidende Frage - ohne zu wissen, was genau ich eigentlich fragen wollte.

„Warum?“

Qalian aber verstand.

„Weil du besonders bist. Und weil in deinen Adern dasselbe Blut fließt wie in meinen … und denen unserer Brüder und Schwestern.“

Ich sah ihn ratlos an, am Ende meiner Aufnahmebereitschaft angelangt. Brüder und Schwestern? Ich konnte nicht mehr, und ich spürte mit einem Mal, wie meine Lider bleischwer und meine Glieder matt und kraftlos wurden.

Qalian schien es zu bemerken.

„Wir haben noch eine lange Reise vor uns, und dann werde ich dir alles erklären, was du wissen musst. Jetzt leg dich erstmal schlafen.“ Einen Moment lang kehrte das Funkeln von vorhin in seine Augen zurück. „Die Dämmerung naht.“

~

Am nächsten Morgen zogen wir gen Ark.

Ihr mögt Euch nun fragen, warum ich dem seltsamen Mann folgte, und ich kann Euch keine klare Antwort auf diese Frage geben. Sicherlich wäre vieles anders gelaufen, wenn ich mich im Grau des Morgennebels davongestohlen hätte. Aber ich konnte es allein meiner Erschöpfung wegen nicht, und selbst wenn, hätte ich es vermutlich nicht getan. Vielleicht spielte auch der seltsame Umstand mit hinein, dass alles, was ich in der vergangenen Woche erlebt hatte, mir aus irgendeinem bizarren Grund vertraut erschien. Und Qalians Worte hatten auf mich eine gar hypnotische Faszination ausgeübt, die ich nicht begründen konnte. Es war der Nektar ihrer Sünden. Zwar geisterten noch tausende Fragen in meinem Kopf herum, aber dennoch war das Wissen, dass der Mord, den ich verübt hatte, gerechtfertigt gewesen war und dass ich damit etwas Gutes getan hatte, ein Halm, an den sich mein geplagter Geist klammern konnte. Zu wissen, dass man einen Menschen getötet hat, ist ein eigentümliches Gefühl. Wie bunt malen sich junge Soldaten und Gardisten ihre Träume von Ruhm und Ehre aus, wie erhebend stellen sie sich das Gefühl vor, einem Unrechtschaffenen ihr Schwert in die Brust zu treiben. Und obgleich Letzteres bei mir aus anderen Gründen zutraf, hatte das Nachspiel einer solchen Tat rein gar nichts Erhebendes an sich. Es war ein wechselnder Zustand zwischen geistiger Stasis, in der man rein gar nichts fühlt, und Blitzlichtern der Erkenntnis, in denen einen der Ekel und die Schuld übermannt wie die Herbstfluten die Küste Myars. Kann das Töten jemals gerechtfertigt sein?, fragt man sich in diesen Momenten. Je öfters man es jedoch tut, desto seltener werden die Zweifel, und desto stärker wird die Kälte. Bis das Nehmen eines Lebens irgendwann gewöhnlich wird.

Jener Zustand war dem Mann, der ich damals war, jedoch noch fremd, und als mir Qalian im Grau der Dämmerung eine Schale heißen, dampfenden Haferschleim mit blutroten Waldbeeren hinstellte, übermannte mich ein Brechreiz, noch bevor ich auch nur einen Löffel davon gegessen hatte. Ich meinte eine einen Anflug von Schuldbewusstsein in Qalians Augen erkannt zu haben. Oder war es Belustigung gewesen? Ich weiß es nicht.

Während wir dann unsere Habseligkeiten zusammenpackten, fragte ich erneut nach der Bedeutung seiner gestrigen Aussage. Er schüttelte nur den Kopf und sagte, dass man das „Feuer“ genauso wenig durch Gespräche allein begreifen könnte wie man das Schwimmen durch das Lesen einer Abhandlung über die Konsistenz des Wassers zu erlernen vermag.

So kam es also, dass wir beide, unterschiedlich wie Tag und Nacht, in Richtung der sagenumwobenen Hauptstadt des Landes zogen: er, wohlgekleidet, gutaussehend und stets selbstbewusst lächelnd; und ich, mit verschlissenen Gewändern, einer Hakennase und dem stets verstörten Blick eines Mannes, der nicht einmal ansatzweise begriff, wie ihm geschah. Die ersten beiden Tage unserer Wanderschaft waren schlimm. Ich aß kaum, und stets meinte ich, getrocknetes Blut an meinen Händen spüren oder menschliche Todesschreie im Vogelgesang hören zu können. Ja, selbst die Stille ließ mir keine Ruhe. Bitte nicht.

Am dritten Tag jedoch ging es mir schon besser, und das erste Mal seit meiner Begegnung mit Qalian spürte ich nicht mehr die kräftezehrende Übelkeit, die stets eintrat, wenn ich einen Moment innehielt und meinen Gedanken gestattete, abzuschweifen. Selbstverständlich kann man meinen Gemütszustand beim besten Willen nicht als frohgemut bezeichnen, aber dennoch fühlte ich mich auf eine seltsame Art und Weise besser als unmittelbar nach meiner Flucht aus Nebelhaim. Der Grund hierfür war einfach: Die Angst in meinem Magen war verschwunden. Oder besser gesagt: Ich hatte das Gefühl, sie besänftigt zu haben, wie ein wildes Tier, das gerade gespeist hat und weiß, dass zahlreiche Mahle folgen werden. Ich bin auf dem richtigen Weg. Wie seltsam klangen diese Worte in meinen Ohren. Aber dennoch: Ich fühlte mich wohl. Als hätte ich nun endlich ein Licht am Horizont erkannt, dem ich schon mein ganzes Leben hätte folgen sollen.

Immer mehr begannen auch meine Schuldgefühle abzuflauen. Zwar hatte ich keine Möglichkeit, es zu überprüfen, aber für mich war klar, dass Qalians Erzählung wahr sein musste. Die arroganten Gesichter, die boshaften Stimmen – die beiden Männer waren böse gewesen. Verdorben. Und die Mitglieder von Keshans Familie wären nicht ihre letzten Opfer gewesen. Ja, je mehr Zeit ich mit derlei Gedanken verbrachte, desto wahrer klangen sie in meinem Verstand.

Während wir wanderten, erzählte mir Qalian außerdem allerlei andere Dinge. Einen großen Teil davon machten Geschichten aus seiner Vergangenheit aus. Ich wusste nun, dass er ursprünglich aus Nehrim stammte, was auch seinen subtilen Akzent erklärte. Aufgewachsen war er in Cahbaet, der Hauptstadt des Nordreichs. Das Nordreich befand sich genau wie das Mittelreich unter der Kontrolle des Kanzlers Barateon, aber Qalian spekulierte, dass ein Bürgerkrieg zwischen den nordländischen Separatisten und dem Kanzler nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Er schätze auf zehn Jahre. Wie er nach Enderal gekommen war? Dies habe viele Gründe gehabt, und mit einem zurückweisenden, aber nicht harschen Blick signalisierte er mir, dass dies die Kapitel seiner Vergangenheit waren, in die ich noch nicht bereit war zu blicken.

Nach einem einwöchigen Marsch war es schließlich soweit. Wir erreichten Ark.

Ich will keine Tinte mit unnötigen Beschreibungen verbringen. Mit Sicherheit ist Euch die endraläische Hauptstadt wohlbekannt, und Ihr könnt Euch ausmalen, wie sprachlos ihr erster Anblick mich zurückließ. Wir hatten sie von einem kleinen Vorsprung aus das erste Mal erblickt, und ich verbrachte Minuten damit, die im Sonnenuntergang badende Metropole einfach nur anzusehen.

„Beeindruckend, nicht wahr?“, hörte ich eine Stimme neben mir. Es war Qalian.

Ich murmelte etwas, ohne meinen Blick abzuwenden, woraufhin meinem Begleiter ein Lachen entwich.

„Genieß es. Manchmal ist das erste Mal das Beste.“, sagte er und setzte sich an den Klippenrand, ein Abgrund von gut vierhundert Arm weit zu seinen Füßen. Ich blickte zu ihm und sah, wie er seine Augen geschlossen und den Blick leicht gen Himmel gewandt hatte und sich das rotgoldene Licht der Abendsonne ins Gesicht schienen ließ. Schon wieder spürte ich unwillentlich eine Welle des Neids in mir aufsteigen. Wäre eine junge Frau in jenem Moment den Hügel heraufgestiegen, hätte sie ihn für einen Helden aus einem Bardenlied gehalten. Aber gleichzeitig spürte ich, dass Qalian sich nicht inszenierte. Nein, er genoss schlicht und einfach den Anblick, den Moment, das Sonnenlicht. – Eine Fähigkeit, die ich in meinem ganzen Leben nie erlernt hatte.

~

Es war bereits dunkel, als wir die Stadtwachen mit unseren Papieren in der Hand um Einlass baten. Sie gaben uns als Handelsmänner aus Arazeal aus – wir hatten des ungünstigen Wetters wegen im Hafen Dünenhaims anlegen müssen –, und nach einem kurzen Blick darauf ließ uns die kontrollierende Gardistin passieren. Hatte ich bis dahin noch Gedanken an eine Rückkehr in mein altes Leben als Pater gehabt, so verschwanden diese spätestens zu dem Zeitpunkt, als die schweren Tore hinter uns ins Schloss fielen und das Fallgatter geräuschvoll auf dem Boden aufschlug.

Einkehr fanden wir an jenem ersten Abend in einer Schenke namens „Zum Tanzenden Nomaden“. Wir tankten dort neue Kraft mit einem deftigen Zuckerrübeneintopf, körnigem Schwarzbrot und sündhaft teurem Cahbaeter Bier, auf das mich Qalian mit seinem prall gefüllten Groschenbeutel einlud. Diesmal reden wir nicht viel, sondern verbrachten den Großteil unseres Aufenthalts damit, der Musik einer schönen, rothaarigen Bardin zu lauschen, deren dunkle Stimme im Kontrast zu ihrem zarten Äußeren stand. Sie sang traditionelle Volkslieder wie „Das Lied des alten Mannes“, den „Wegelosen Wanderer“ und „Die Maid im Silberschein“, und ich blickte beklommen zu Boden, als Qalian bei letzterem Lied lauthals mitzusingen begann. Erst als ich bemerkte, dass niemand an seinem guten, wenngleich nicht außergewöhnlichem Gesang Anstoß nahm, sondern viele ihn sogar zum Anlass nahmen miteinzustimmen, spürte ich, wie mein unbegründeter Scham wieder von mir wich und ich mich zunehmend wohler zu fühlen begann.

Wir blieben lange in dem gemütlichen Schankraum, und erst als sich neben uns nur noch fünf weitere Gäste in der Schenke befanden, stellte ich die Frage, die mir auf den Lippen brannte.

„Und nun?“ Ich sprach leise, benommen von dem Alkohol und der Lautstärke der vergangenen Stunden.

Qalians Blick traf den meinen, und er senkte ihn nicht, bis ich irgendwann unangenehm berührt zu Boden schaute. Ich hörte, wie Qalian einen Laut von sich gab, der sowohl ein gedämpftes Auflachen als auch ein Seufzen hätte gewesen sein können.

„Nun begeben wir uns erst mal in die Horizontale. Und morgen“ – seine Augen funkelten kurz auf – „wartet die erste Lektion auf dich.“

Ich wusste nichts mit seinen Worten anzufangen.

„Erste Lektion?“

Er lächelte.