Enderal:Der Schlächter von Ark, Buch 6: Die Silberwolke

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Kapitel 6: Die Silberwolke

Eine Fähigkeit Qalians, die ich bis heute nicht verstanden habe, war die, fast ohne Schlaf auszukommen. Schon während unserer Reise hatte er sich stets weit nach Mitternacht ins Bett gelegt, und stets war er vor mir wach gewesen, meist noch lange vor der Dämmerung. Der Morgen verlief bei ihm gleichbleibend nach einer strengen Routine: Sie begann mit einem dreißigminütigen Gebet in einer Sprache, die ich nicht verstand. Anschließend begann er Übungen mit seinem gekrümmten Säbel durchzuführen, meist für eine gute Stunde, an zwei Tagen der Woche mehr. Dann ging er sich baden – oder besprenkelte seinen Körper mit Wasser, wenn kein Bach oder See in der Nähe war – und bereitete sich ein Frühstück aus einem mit bitteren Kräutern versetzten Getreideschleim zu, den er mit einer meditativen Ruhe aß, als wären in ihm alle Geheimnisse der Pyräer verborgen. Insgesamt, so schätzte ich, kam er pro Nacht allerhöchstens auf vier Stunden Schlaf, und ich kam nicht herum mich zu wundern, wie er dennoch jeden Tag aufs Neue so gesund und vital wirkte, als hätte er soeben in den Wassern Inodans gebadet.

Hatte mich Qalian auf der Reise stets schlafen lassen, weckte er mich an unserem ersten Tag in Ark bereits früh am Morgen. Meine Glieder fühlten sich ob der durchzechten Nacht wie Blei an, und für einen Moment versuchte ich mit meinen vom Schlaf verschwommenen Blick den Wassertrog ausfindig zu machen, den ich in Nebelhaim stets zur Morgenwäsche verwendet hatte. Dann jedoch wurde ich mir wieder bewusst, wo ich war. Ich ächzte, hievte meinen Körper in die Vertikale und warf einen Blick nach draußen. Beim rechten Weg, wie spät ist es? Die Sonne war noch nicht einmal ansatzweise aufgegangen. Als hätte Qalian meine Gedanken gelesen, beantwortete er meine Frage. „Es sind noch zwei Stunden bis zum Hahnenschrei, mein Freund. Und bevor du jetzt etwas sagst“ – er war gerade dabei, sich seinen Schwertgurt um die Hüfte zu binden, und drehte sich nun zu mir um – „es muss sein. Wir haben eine Verabredung.“

Ich wollte etwas erwidern, aber das Ergebnis war lediglich ein missmutiges Brummen. Qalian fuhr fort.

„Triff mich in einer Stunde vor dem letzten Haus der Wolkengasse. Ich werde dort auf dich warten.“

Bevor ich auch nur etwas hätte erwidern können, war Qalian aus dem Raum entschwunden. Ich blieb einige Momente verwirrt auf meiner Bettkante sitzen, richtete mich dann seufzend auf und ging hinüber zum Fenster. Gedankenverloren ließ ich meinen Blick über die Dächer der noch schlafenden Stadt schweifen. Keine Wolke verdunkelte das silbrige Licht des Mondes, und trotz der frühen Stunde waren bereits etliche Figuren auf der Straße auszumachen. Ich kehrte einen Moment in mich. Tatsächlich fühlte ich mich der Trunkenheitskopfschmerzen zum Trotz erstaunlich gut. An die Geschehnisse im Roten Ochsen dachte ich zwar nur noch selten, aber in diesem Moment erinnerte ich mich an Qalians Worte: Du hast ihre Verbrechen gespürt, und ihre Schuld. Und der Rausch war die Belohnung für deinen Mut. Es war der Nektar ihrer Sünden.

Konnte das tatsächlich der Grund sein, warum mich der Mord so kalt ließ? Weil er … gerechtfertigt gewesen war?

Ich dachte: Bitte nicht!

Ich dachte: Etwas Gutes.

Mit einem Laut, der sowohl erheitert als auch verzweifelt klang, schüttelte ich mir die Gedanken aus dem Kopf. Stattdessen lenkte ich meinen Blick auf das rege Treiben in den Gassen der Stadt. Ich sah drei ausgemergelt wirkende Kinder schwere Säcke die große Straße entlang tragen, die quer durch Ark führte. Direkt hinter ihnen patrouillierten drei gerüstete Gestalten, vermutlich Gardisten. Zwei Frauen, von denen eine muskulös und breit und die andere schmal gebaut war, zogen zu zweit einen Schubkarren mit einem Fass und drei Bündeln Heu in eine kleine Gasse hinein, die am Hinterausgang der Schenke vorbeiführte.

Nachdenklich wandte ich mich ab und schlüpfte in meine Gewänder. Ich speiste im Schankraum und machte mich anschließend mit einem halb-neugierigen, halb-beklommenen Gefühl auf den Weg.

Ich will Euch nicht mit unnötigen Details meiner ersten Reise in Ark langweilen, denn mit großer Wahrscheinlichkeit wisst Ihr bereits, wo jene Straße liegt. Ich hatte es an jenem Tag nicht gewusst, und erst als mich eine Wache mit einem skeptischen Blick beäugte und zu einem halb auseinanderfallenden Lagerhaus deutete, wurde mir bewusst, wo ich mich befand, und dass ich geschätzte fünfzehn Minuten vor der vereinbarten Zeit am Treffpunkt angekommen war. Die Wolkengasse, wie sie die Städtebauer ohne ersichtlichen Grund genannt hatten, markierte nämlich nichts anderes als das Ende des Handwerkerviertels und war jene Gasse, die zu dem großen, in Fels gehauenem Tor führte, das ein jeder anständige Oberstädter hoffte niemals durchschreiten zu müssen.

Es markierte den Eingang zur Unterstadt.

Verunsichert sah ich mich um. Ich wusste aus zahlreichen Erzählungen, nicht zuletzt aus der Qalians, dass die Unterstadt ein Ort war, den es zu meiden galt, es sei denn, man hatte mit den Hehlern und Kriminellen dort unten irgendwelche Machenschaften oder war eben derart verarmt, dass man sich mehr als eine der brüchigen Hütten dort unten nicht leisten konnte. Aber egal wie ich mir den Kontrast zwischen der schönen Hauptstadt und dem Elend der Unterstadt ausgemalt hatte, immer war in meinen Gedanken Platz für eine Art „Übergang“ gewesen, eine Art Transition zwischen Reichtum und Armut. Aber den schien es nicht zu geben. Blickte ich nach oben, sah ich den eindrucksvollen Myradenturm, dessen namensgebende Flugtiere gut situierte Reisende direkt in die Stadt oder aus ihr hinaus fliegen konnten. Neben mir prasselte rauschend ein großer Wasserfall herab, und wäre ich die kleine Gasse wieder hinaufgegangen, auf der ich vor wenigen Minuten den verwinkelten Marktplatz verlassen hatte, hätte ich mich wieder im Herzen des Handwerkerviertels befunden. Irritiert wandte ich meinen Blick wieder dem Holztor zu, das von zwei bis an die Zähne bewaffneten Gardisten bewacht wurde. Konnte sich unmittelbar hinter diesem Tor wirklich der Eingang zu dieser anderen, unschönen Welt befinden?

Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter und wirbelte herum. Es war Qalian.

„Du hast also hierher gefunden. Schön“, sagte er. „Bist du bereit?“

Ich kniff meine Augen argwöhnisch zusammen. Dass meine erste „Lektion“ mit der Unterstadt zu tun haben würde, war mir nun klar. Aber was genau erwartete mich?

„Ich denke schon. Und … was genau haben wir vor?“

Qalian schmunzelte. „Ganz einfach, mein Freund.“ Er löste seinen Rucksack von seinen Schultern und ging in die Knie, um darin nach etwas zu suchen. Dann sah er wieder auf zu mir.

„Wir werden etwas Spaß haben.“

~

Hatte ich bis vor wenigen Momenten noch bezweifelt, dass sich hinter der großen, bewachten Holztüre tatsächlich die Unterstadt befinden konnte, so verschwanden diese, als die beiden Wachmänner uns mit argwöhnischer Miene Einlass gewährten. Sie müssen uns für verrückt halten, dachte ich, als die beiden Türflügel schließlich aufschwangen. Das war auch nicht weiter verwunderlich. Welcher Oberstädter gesunden Verstandes würde sich schon freiwillig in die Unterstadt begeben, wo es doch allseits bekannt war, dass der Orden und die Garde dort unten quasi machtlos waren? Natürlich, offiziell war dem nicht so. Aber unter der Hand wusste jeder um die stille Vereinbarung, die der Heilige Orden mit der Rhalâta, jenem Zusammenschluss zwielichtiger Gestalten, getroffen hatte: Ihr bleibt unter euch und wir unter uns.

Demzufolge war die Unterstadt sozusagen eine Stadt in der Stadt, und sie war weitaus düsterer als das oberirdische Ark mit seinen rustikalen, aber gemütlichen Fachwerkhäusern, Springbrunnen und Theatern. Die Rhalâta kontrollierte dort jeden Aspekt des Lebens, und wer aus welchen Gründen auch immer das Pech hatte, dort unten leben zu müssen, hatte sich ihr zu unterwerfen, ob er es nun wollte oder nicht. Mit einem Schaudern erinnerte ich mich an die Geschichte, die ein reisender Händler erzählt hatte. Dreh- und Angelpunkt seiner Erzählung war ein junger Handelsmann gewesen, der erst wenige Mondwenden vor den grausamen Geschehnissen, die sich ereignen sollten, das begehrte Abzeichen der goldenen Sichel verliehen bekommen hatte, das ihn als Händler von Bonität kennzeichnete. Jener junge Mann jedoch wollte die Abkürzung zum Reichtum nehmen und hatte daraufhin begonnen, mithilfe von ein paar Arker Burschen Glimmerkappenstaub zu sammeln. Dass die Herstellung von Glimmerkappenstaub mehr oder minder offiziell ein Privileg der Rhalâta war, hielt den jungen Mann nicht davon ab, seine Kohorte aus arglosen Buben in eine Höhle nahe der Westküste zu schicken, um dort – wie er glaubte – unbehelligt seinen eigenen Einstieg in das Geschäft mit der tödlichen Droge zu beginnen.

Für eine knappe Mondwende ging das Geschäft gut, und sein Groschenbeutel füllte sich schneller als die Trinkhörner einer gut besuchten Kneipe. Als er dann eines Morgens jedoch zur Grotte ritt, aus der seine Sammler die Pilze gewannen, fand er den Ort verlassen vor. Nur vier mannshohe Körbe fanden sich auf der Ladefläche eines Karrens, der den Eingang zur Grotte versperrte. Die Körbe waren bis zum Anschlag mit Glimmerkappenpilzen gefüllt, doch ging ein eigentümlicher Geruch von ihnen aus. Als der Händler seinem Leibwächter befahl, den Inhalt auf den Boden zu schippen, rollte aus jedem der Körbe eine andere Sorte abgetrennter Extremitäten auf den Boden: Arme, Beine, Torsi, Köpfe. Letztere waren fein säuberlich abgetrennt worden, so dass kein Zweifel daran bestand, wem sie einst gehört hatten: Fünf davon gehörten den unglückseligen Burschen, die sich bei dem Händler einen kleinen Zuverdienst erarbeitet hatten. Zwei andere gehörten seinen Töchtern. Der achte Kopf war der seiner Gefährtin. In ihre Stirn waren folgende Worte geritzt worden: „Sha’Rim Rhalâta“ – die Rhalâta vergisst nicht.

Den Händler selbst ließen sie leben, hatte der alte Handelsmann seine Geschichte beendet. In dem Kontor der goldenen Sichel ließ er sich jedoch nie wieder sehen, und Gerüchten zufolge nahm er sich einige Mondwenden danach das Leben.

Und jetzt sind wir hier. Mir wurde unwohl. Alles an uns schrie nach Oberstadt und Wohlstand – unsere Gebärden, unsere teuren Gewänder, Qalians Dolch. Eine Treppe führte hinter den Toren hinab in die Dunkelheit. Erst als wir gute fünfzehn Minuten hinabgestiegen waren, begannen wir die ersten Anzeichen menschlichen Lebens zu erkennen. Die Luft war kalt und feucht, und es roch nach Ammoniak, Moder und nassen Steinen. Wir kamen am Ende der langen Steintreppe an. Hölzerne Planken markierten eine Art Weg, der in einen vielleicht dreißig Armweit hohen Stollen führte. Die erste Hütte, die wir passierten, war derart gedrängt in eine natürliche Felsecke gebaut worden, dass ich sie um ein Haar nicht erkannt hätte. Mächtige, rostfarbene Rohre, die aus den Wänden kamen und im Boden wieder verschwanden, wanden sich um die brüchigen Holzplanken, aus denen das Haus gebaut worden war. Kalte, gelbe Lichtstrahlen brachen aus den vernagelten Fenstern hervor, und ich hörte gedämpfte Stimmen aus ihnen herausklingen. Die Hauswände, welche nicht direkt von der Felsmauer umschlossen waren, waren mit alten Kisten und Fässern zugestellt, manche davon zerbrochen.

Mittlerweile hatten mehr und mehr der Hüttenbewohner Qalians und meine Anwesenheit bemerkt. Einige von ihnen beäugten uns misstrauisch und sahen dann wieder weg, andere hingegen starrten uns geradeheraus an. Während wir immer weitere Hütten passierten, sahen wir sogar einige vor den Gebäuden aufgestellte, überdachte Konstruktionen, die wohl so etwas wie Marktstände darstellten. Auf ihnen wurden allerlei Waren feilgeboten, von Fischen über Gewürzen bis zu ungesund aussehendem Brot und Gemüse. Qalian schienen die Blicke der Passanten nicht zu stören. Er beschleunigte seinen Schritt und verschwand hinter einer Ecke. Ich folgte ihm, und was ich sah, verschlug mir den Atem.

Vor mir erstreckte sich eine gigantische Höhle, deren Decke so hoch war, dass dort zwei ganze Wachtürme aufeinandergebaut hineingepasst hätten. Stalagtiten hingen wie versteinerte Eiszapfen von der Decke, und aus der Ferne sah ich einen eindrucksvollen Wasserfall aus der Felswand herausbrechen. Häuser aus dunklem Holz und mit schiefen Dächern waren in der gesamten Höhle auf dockartigen Plattformen erbaut, die über Treppen und Hängebrücken miteinander verbunden waren und sowohl von Stützpfeilern als auch von den Steinsäulen der Höhle gehalten wurden. Je weiter vom Zentrum der Höhle entfernt sich die Häuser befanden, desto höher wurden sie, sodass die gesamte Architektur in mir die Assoziation eines gigantischen Amphitheaters hervorrief. Im Zentrum selbst standen die Gebäude auf dem baren Felsboden und unterschieden sich sowohl in Form als auch in Aussehen stark von den auf den Plattformen erbauten Wohnhäusern. Ich sah ein steinernes Gebäude, das mit seinem hohen Dach und einem spitz zulaufendem Turm an einen kleinen Tempel erinnerte. Einige Dutzend Armweit daneben stand ein anderes, mehrstöckiges Haus. Es war ebenfalls aus Stein gebaut, und aus seinen gläsernen Fenstern schien ein rötlich-milchiges Licht. Zahlreiche Menschen tummelten sich im Zentrum, und obwohl sich mein Aussichtspunkt nahe dem runden, freistehenden Platz befand, der wohl den tatsächlichen Mittelpunkt dieser unterirdischen Stadt markierte, konnte ich aufgrund der Dunkelheit kaum mehr als die Silhouetten der Gestalten erkennen. Die Unterstadt … Sie hatte sich ihren Namen verdient.

Ein bulliger Mann riss mich aus meinen Gedanken, als er mich im Vorbeigehen unsanft beiseite rammte. Ich seufzte und wischte mir den Schweiß von der Stirn, der sich trotz der kühlen Luft dort angesammelt hatte. Dann sah ich mich nach Qalian um, der mir vorausgegangen war. Ich erspähte ihn am Fuß einer Treppe, unter einem kahlen, krummen Baum. Er unterhielt sich mit jemandem. Hastig ging ich die Stufen hinab. Als ich mich Qalian und seinem Gesprächspartner näherte, deutete dieser bereits fragend auf mich, woraufhin Qalian eine beschwichtigende Geste machte. Erst als ich zu ihnen trat, begriff ich, dass es sich bei Qalians Gegenüber um eine Frau handelte. Sie hatte kurz geschorenes, blondes Haar, was einen starken Kontrast zu ihrem eigentlich weichen, sanften Gesicht mit seinen vollen, roten Lippen bildete. Ihre Augen jedoch … Ich spürte, wie etwas in meinem Magen sanft aufglomm, protestierend, wütend, als sich unsere Blicke trafen. Die Augen der jungen Frau waren eisblau, so grell, dass sie selbst in der diffusen Lichtstimmung der Höhle zu leuchten schienen. Aber so objektiv schön sie auch sein mochten, etwas an ihnen löste eine Gefühlsregung in mir hervor, die ich nicht zu deuten wusste. Sie wirkten kalt.

Noch bevor ich jedoch der wieder in mir erklingenden Stimme Beachtung schenken konnte, ergriff Qalian das Wort.

„Darf ich vorstellen, Jaél?“ Er wies mit nach oben gerichteter, offener Handfläche auf die junge Frau. „Das ist Yaléna.“

Ich versuchte, etwas zu erwidern, aber es misslang mir.

Yaléna musterte mich kurz von Kopf bis Fuß und wandte dann ihren Blick ab.

„Er wirkt, als würde er sich gleich in die Hosen machen. Seid Ihr Euch auch absolut sicher? Noch ist es nicht zu spät.“

Qalian lächelte charmant und nickte. „Bin ich. Und Ihr könnt ihm vertrauen, dafür gebe ich Euch mein Wort.“

Die Frau biss sich kurz auf die Lippen und furchte die Augenbrauen. Dann erwiderte sie Qalians Nicken.

„Na schön. Dann los.“

Wir setzten uns in Bewegung. War es meine Einbildung, oder war die Anzahl der hasserfüllten Blicke, die uns zugeworfen wurden, höher geworden? Mit einem Mal fühlte sich die Luft schwerer an, die Dunkelheit der Höhle drückender. Qalian warf mir einen Blick über die Schulter zu. In seinem Blick ließ sich keine Spur von Angst oder Beklommenheit erkennen. Nein, auf eine gewisse Art und Weise glomm in seinen Augen gar Vorfreude. Aber weshalb? Dass sich hier unten allerlei zwielichtige Gestalten herumtrieben, war mir klar. Aber warum wirkten Qalian und unsere Führerin so vertraut?

Unser Ziel war eine dunkle Gasse direkt neben dem mehrstöckigen Haus mit den roten Fenstern, das ein Schild am Eingang als die „Silberwolke“ auswies. Entschlossenen Schrittes tauchte die junge Frau in die Dunkelheit ein, und wir folgten ihr. Im Schatten der Gebäude war es stockfinster, und mir wurde noch unwohler, als ich sah, dass unsere Führerin am Ende der Gasse in eine noch kleinere einbog. Das ist ein Labyrinth. Und ein verdammt gefährliches noch dazu. Bis auf Müllhaufen und Fäkalienpfützen war die Gasse außerdem menschenleer. Nur zweimal begegneten wir Menschen. – Zunächst zwei Männern, die sich an einem kleinen Lagerfeuer wärmten. Als Yaléna das Feuer aus der Ferne sah, beschleunigte sie ihren Schritt und trat einem der beiden Männer mit voller Wucht an den Kopf. Dieser stieß einen erstickten Schrei aus und ging zu Boden, woraufhin der andere erschrocken versuchte, sich an der Wand aufzurichten. Yaléna ließ es nicht dazu kommen und beugte sich zu ihm vor, ihr Gesicht nah an dem des Bettlers, und murmelte etwas von „offenes Feuer“, „Gasse“ und „die Geschwister“. Daraufhin schmetterte sie ihn zu Boden und bedeutete uns, weiterzugehen. Unsere zweite Begegnung mit Menschen in dem dunklen, unterirdischen Irrgarten war die mit einer in Laken gehüllte Gestalt, die ebenfalls an der Mauer eines Hauses gekauert saß und die ich aufgrund ihrer Verschleierung überhaupt nicht wahrnahm. Als ich sie jedoch passierte, streckte sie eine knochige Hand aus und packte mich am Schenkel. Ich stieß einen Schrei aus und drehte mich um. Daraufhin hob sie ihren Schleier vom Kopf und offenbarte ein von eitrigen, pulsierenden Geschwüren überwuchertes Gesicht, welches einst jenes einer Frau meines Alters gewesen sein musste. Fleischmaden. Sie flüsterte etwas, was dem Ton zufolge eine flehende Bitte hätte gewesen sein sollen, aber ihr deformierter Mund brachte lediglich ein gutturales, rasselndes Geräusch zuvor. Ruckartig entzog ich mein Bein ihrer Klaue und eilte Qalian und Yaléna hinterher. Als wir schließlich nach einer gefühlten Ewigkeit ankamen, war ich erschöpft wie nach einem Tag strammer Wanderung, und ich fürchtete, den widerwärtigen Geruch, der nun an mir haftete, nie wieder loszuwerden.

Yaléna machte vor einer dicken Stahltür Halt und klopfte zweimal. Nach einigen Momenten öffnete sich eine Luke, und zwei von buschigen Brauen bewachte Augen blickten aus dem Inneren nach Draußen. Als sie unsere Führerin erkannten, hörte ich das Geräusch eines geschobenen Riegels, und die Tür öffnete sich. Der Türwärter war ein unauffälliger Mann mit kurz geschorenem Haar, der mich auf eine unangenehme Art und Weise an mich selbst erinnerte. Er sah uns abwägend an, aber aus seinen Gebärden wurde augenblicklich klar, dass er Yaléna untergeordnet war. Erleichtert stellte ich fest, dass das Gebäude, das wir betraten, anders als sein Exterieur hätte vermuten lassen, sauber und von mehreren an der Wand verankerten Kerzenhaltern hell beleuchtet war. Ja, sogar ein leichter Hauch von Lavendel lag in der Luft, was mir nach dem allgegenwärtigen Fäkaliengestank der letzten Stunden wie der Duft von Irlandas Haar vorkam. Wortlos wurden Qalian und ich einen schmalen Korridor entlang geleitet, der von zahlreichen, verriegelten Türen gespickt war. Trotz des sanften Lichtes, das unter ihnen hervordrang, wirkten sie auf mich beklemmend, wie Kerkerzellen. Am Ende des Ganges stieß Yaléna eine weitere Türe auf. Der Raum, der sich uns präsentierte, war beeindruckend. Ausgeschmückt nur mit den feinsten Möbeln und Kissen, tauchte ihn ein goldener, von der Decke hängender Kronleuchter in ein schwaches, orangefarbenes Licht. Ein Nebel hing in der Luft, und als ich meinen Blick über die niedrig aufgestellten, von Sitzkissen umgebenen Tische schweifen ließ, wurde mir klar, woher der Lavendelgeruch stammte. – Insgesamt boten die verschiedenen Sitzmöglichkeiten Platz für gut zwei Dutzend Personen, aber außer uns, dem Torwächter und Yaléna sah ich nur drei andere Gäste, die für sich an einzelnen Tischen saßen, Wein tranken und Wasserpfeife rauchten. Eine sanfte Harfenmusik erklang aus einer Ecke des Raumes, die ich nicht einsehen konnte. Ich begann mich wieder wohler zu fühlen. War dies vielleicht tatsächlich nur eine Tabakschenke? Vielleicht ein exklusiver Laden für ein noch exklusiveres Klientel. Welches exklusive Klientel den beschwerlichen Weg durch die Gassen auf sich nehmen sollte, nur um ein paar Pfeifen Friedenskraut mit Lavendelgeruch zu rauchen, wollte sich mir nicht erschließen. Ich schürzte die Lippen und warf einen hilfesuchenden Blick in Richtung Qalian. Dieser lächelte nur zufrieden und nickte mir kaum merklich zu.

„Nehmt Platz“, sagte Yaléna und wies auf einen freien Tisch in einer Ecke. Dann setzte sie sich wortlos in Bewegung und verschwand hinter einem Vorhang, während der Torwächter sich wieder zurück zum Eingang begab.

Ich wollte gerade ansetzen und etwas sagen, aber Qalian signalisierte mir, zu warten. Wir nahmen Platz. Ich sah mich verstohlen um und inspizierte die anderen Gäste. Zwei Männer, einer davon jung, ein anderer davon alt, und eine ältere Frau mit zu einem strengen Dutt geknoteten Haaren. Allesamt wirkten sie, ihrer Gewandung nach zu urteilen, wohlhabend, so wie wir. Sie schenkten uns keinerlei Beachtung. Qalian griff nach einer auf dem Tisch stehenden Kerze und hielt diese unter den Topf der Wasserpfeife. Dann lehnte er sich zurück – unsere Sitzkissen lagen unmittelbar vor einer Wand – und gähnte frohgemut. Er sah mit seligem, entspanntem Blick auf die Wasserpfeife, in deren Topf sich langsam erste Blasen zu bilden begannen. Einige Momente lang tat ich es ihm gleich; dann entschloss ich mich dazu, das Schweigen zu brechen.

„Qalian …“

Er schnitt mir mit einer Geste das Wort ab und schüttelte beinahe nachsichtig den Kopf. „Entspann dich einfach, mein Freund.“ Er fühlte mit einer Hand den Topf der Wasserpfeife. „Entspann dich.“

~

Wir warteten gute dreißig Minuten, bis ein dicklicher, freundlich lächelnder Mann auf uns zukam, der sich uns als Konthis vorstellte. Als erstes fiel mir an ihm auf, dass der linke Ärmel seines teuer aussehenden, burgunderfarbenen Gewandes schlaff herabhing. Er war einarmig. Dann, als er uns beiden seine Rechte zur Begrüßung hinstreckte, bemerkte ich die zahlreichen, schillernden Ringe, die er an seinen fleischigen Fingern trug. Ein überraschend angenehmer Geruch schlich sich in meine Nase, der von seinem Parfüm stammte. Es duftete würzig und süß.

„Entschuldigt bitte die Verzögerung“, eröffnete er das Gespräch mit einer dunklen, basslastigen Stimme, die nicht zu seinem Aussehen passte. „Wir haben heute viele Kunden. Darf ich Platz nehmen?“

Qalian bejahte die Floskel, und Konthis setzte sich uns beiden gegenüber. Eine Weile lang sagte keiner von uns dreien etwas, und ich spürte, wie uns Konthis dunkle, scharfsinnige Augen prüfend musterten. Dann nickte er zufrieden.

„Wohlan denn. Formalitäten zuerst.“ Er förderte ein zusammengefaltetes Pergament aus dem Inneren seines Gewandes zutage und studierte es kurz.

„Jarimôn vom Blute Bathila, 46 Winter alt, Geschäftsmann. Und … ah, Ihr kommt aus Arazeal? Donnerwetter … Ihr sprecht sehr gutes Endraläisch, wenn Ihr das Kompliment gestattet.“

Die Frage schien sich an Qalian zu richten. Er lächelte.

„Übung macht den Meister, schätze ich.“

Konthis nickte. „In der Tat, das tut sie. Na gut. Und dann hätten wir noch … Jaél vom Blute Thalas. Auch Arazealaner.“

Ich nickte und versuchte dabei, Qalians sympathisches Lächeln nachzuempfinden.

„Sehr schön." Er faltete das Pergament wieder zusammen und beugte sich ein Stück vor. „Dann fangen wir an. Einverstanden?“

Qalian blies seinen Pfeifenrauch schräg nach oben aus. Seine Augen waren leicht neblig, wie man es von Friedenskraut-Konsumenten kannte, aber er wirkte nichtsdestotrotz bei klarem Verstand.

„Ich bitte darum“, sagte er.

„Lasst mich nur noch einmal der Vollständigkeit halber die Regeln und den Ablauf eures hoffentlich nicht letzten Besuches erklären.“ Er sprach die Worte freundlich aus, aber ich spürte, wie eine gewisse Schärfe in ihnen mitschwang. „Ein Bediensteter wird euch, sobald ihr den Rest gezahlt habt ...“

„Wir zahlen, bevor wir die Leistung erhalten haben?“ Qalian wirkte empört.

„Das sind die Regeln, Matris. Es tut mir leid“, erwiderte Konthis, ohne den Blick zu senken.

Qalian bedachte den korpulenten Mann mit einem unzufriedenen Blick, aber signalisierte dann mit einer Handbewegung Einverständnis.

Konthis lächelte. „Gut. Also: Ein Bediensteter wird ein Signal geben und euch daraufhin in eure Kammern leiten. Beziehungsweise“ – er warf ein Blick auf das Pergament – „in eure Kammer. Dort warten dann die Mädchen. Was dann geschieht, bleibt ganz euch überlassen.“ Die Mädchen? Ein Schauer fuhr meinen Rücken herunter, und ich warf Qalian einen nervösen Blick zu.

„Geht es Euch gut, Matris?“, fragte Konthis, der meinen Blick bemerkt hatte.

Noch bevor ich zu einer Erwiderung ansetzen konnte, ergriff Qalian das Wort. „Er ist nur ein wenig aufgeregt.“ Er warf mir einen rügenden Blick zu. „Es ist sein erstes Mal.“

Konthis runzelte die Stirn. „Verstehe. Nun ja.“

„Sobald Ihr fertig seid, läutet Ihr die goldene Glocke am Nachttisch, wartet einige Augenblicke, und läutet dann erneut. Anschließend wird jemand erscheinen und sich um die …“ – er schien um das richtige Wort zu ringen – „den Rest zu kümmern. Und das wäre es auch schon.“ Er ließ seinen Blick von Qalian zu mir und wieder zurück schwenken. „Gibt es eurerseits noch Fragen?“

Qalian hatte welche: „Ich schätze, wir verlassen diesen Ort auf demselben Weg, wie wir ihn betreten haben?“

„Ja. Yaléna wird euch wieder nach außen geleiten.“

Mein Kumpan brummte missmutig. „Verstehe. Und Ihr garantiert für unsere … Anonymität?“

Konthis lachte kurz auf. „Wir garantieren, dass euch niemand außer unseren Bediensteten diesen Ort betreten und verlassen gesehen haben wird. Und Ihr könnt Euch sicher sein, dass unsere anderen Gäste kein Interesse haben, eure Anwesenheit kundzutun. Warum, muss ich vermutlich nicht erklären.“

Qalian schien kurz nachzudenken und rieb sich sein Kinn mit Daumen und Zeigefinger. Dann nickte er zustimmend und streckte Konthis seine kräftige Hand entgegen.

„Einverstanden. Dann haben wir einen Handel.“

Konthis lächelte zufrieden und schüttelte erst Qalians Hand, dann meine. Sein Händedruck war stark und fest. Anschließend nahm Qalian einen kleinen, prall gefüllten Lederbeutel aus dem Inneren seines Mantels und entleerte ihn auf dem Tisch.

„Fünfzehn Goldtaler. Ihr könnt es nachzählen, wenn Ihr wollt.“

Meine Augen weiteten sich. Fünfzehn Goldtaler?! Was für ein Vermögen! Ein Taler entsprach einer Summe von eintausend Groschen! Eintausend Groschen … Das war genug für ein anständiges Haus oder ein Schlachtross der edelsten Züchtung. Mir wurde schwindlig bei dem Gedanken, welcherlei Dinge man für die fünfzehnfache Summe erstehen können musste. Aber dennoch verzog Qalian keine Miene beim Anblick des im lauen Licht schimmernden Goldes. Waren es Qalians mysteriöse „Brüder und Schwestern“, deren Schatzkammern der Reichtum vor meinen Augen entstammte? Sie mussten es sein. Ich wandte mich mit einem unguten Gefühl von dem Anblick der Münzen ab und sah unseren Gastgeber an. Dieser bedachte die Münzen mit einem zufriedenen Blick.

„Das wird nicht notwendig sein.“ Er machte eine winkende Geste mit seiner Hand, und ein schlaksiger Junge in einem roten Gewand trat zwischen zwei Vorhängen hervor, sein Kopf in einer Geste der Demut gesenkt. Als er unseren Tisch erreicht hatte, deutete Konthis lediglich auf die Münzen. Der Junge sammelte sie flink und geräuschlos ein und trug sie davon. Erst als der Knabe zurück hinter den beiden Vorhängen verschwunden war, nahm Konthis den Gesprächsfaden wieder auf.

„Wohlan denn. Dann genießt es.“

Qalian lächelte und blies eine Wolke Pfeifenqualm aus. „Danke.“

Ohne ein weiteres Wort richtete sich Konthis auf und verschwand. Es dauerte nur fünf Minuten, da öffneten sich die Vorhänge wieder und der schlanke Junge signalisierte uns, ihm zu folgen.

Qalian nickte nur kurz und nahm einen letzten Zug aus der Pfeife. Ich stellte beunruhigt fest, dass er beinahe zwei ganze Töpfe Friedenskraut geraucht hatte; eine Menge, die ausreichend war, um einen übermütigen, unerfahrenen Junggesellen für mehrere Stunden in einen komatösen Schlummer zu versetzen. Qalian jedoch wirkte keinen Deut müde. Nein … Seine Augen hatten zwar jenen für Friedenskrautkonsum charakteristischen milchigen Schimmer, und aus jeder seiner Bewegungen sprach Gelassenheit, aber ich erkannte in seinem Blick darüber hinaus das seltsame, einschüchternde Glimmen, das er an jenem Abend für einen kurzen Augenblick gehabt hatte, als er mir von dem „Nektar der Sünden“ erzählt hatte.

Wir richteten uns auf und durchschritten den Raum in Richtung des Jungens. Selbst als wir direkt vor ihm standen, hob er seinen Kopf nicht, sondern sah weiterhin auf den Boden. Er drehte sich um, und wir folgten ihn in den langen Korridor, der sich hinter den beiden Vorhängen offenbarte. Ähnlich wie in dem Gang, der vom Eingangsbereich in den Salon geführt hatte, waren auch hier zellentraktartig schwere Stahltüren in Abständen von guten acht Armweit eingelassen, über deren Türbogen auf einer sündhaft teuer aussehenden, goldenen Plakette eine Nummer stand. Wir hielten bei der Nummer XVI an. Kommentarlos löste der Junge einen schweren Schlüssel von einem großen Bund und drückte ihn Qalian in die Hand. Dann verbeugte er sich kurz, wandte sich ab und ging. Qalian ließ den Schlüssel kurz auf taschenspielerische Art und Weise um seine Finger tanzen und führte ihn dann in das Schloss der Tür ein.

Sie öffnete sich geräuschlos.

~

Das Zimmer war geräumig und luxuriös eingerichtet. Von einem Kronleuchter kam flackerndes Kerzenlicht, das von einem roten Papierschirm gefärbt wurde. Ein pompöses Himmelbett stand in der Mitte, und die Luft roch stark nach Rosen und Lavendel. Noch bevor ich jedoch die zwei gefesselten Mädchen sah, fuhr mir ein kalter Schauer die Wirbelsäule hinab, als ich den Raum hinter Qalian betrat und die schwere Tür ins Schloss fiel. Und noch bevor Qalian mir erklären sollte, welche Dienstleistungen genau dieser Ort erbrachte, fügten sich die Einzelteile des zersprungenen Mosaiks zu einem erschreckend klaren und schaurigen Ganzen zusammen. Mit überforderter Miene sprang mein Blick zwischen den verschiedenen, unmissverständlichen Elementen des Raums XVI hin und her. Die leeren, zweifelsohne von Rauschgift benebelten Augen der auf dem Bett liegenden, gefesselten Mädchen, splitternackt. Das auf einem kleinen Tisch bereitliegende Schälchen mit kantigen Kernen, die ich binnen einer Sekunde als jene der Stechpalmenbeere identifizierte und um deren aphrodisierende Wirkung selbst die Bäckersfrau aus Alt-Hinter-Aranath wusste. Und schließlich die an den Wänden hängenden Utensilien.

„Gefällt es dir?“, fragte Qalian, der sich auf einem ausladenden Arrangement von burgunderfarbenen Sitzkissen niedergelassen hatte. Er befand sich kaum einen Armweit von den beiden gefesselten, auf dem Bett liegenden Mädchen entfernt und bedachte sie dennoch mit keinem Blick. In seinen Mundwinkeln tanzte noch immer das Lächeln, das er niemals abzulegen schien. Wir werden etwas Spaß haben.

Monster, dachte ich, fassungslos. Ohne ein weiteres Wort griff ich Qalian an. Mit einem lauten Schrei sprang ich nach vorne, warf mich auf ihn und begann ihn zu würgen. Qalian hatte scheinbar nicht damit gerechnet, und für einen Augenblick schien es, als hätte ich die Oberhand. Dann jedoch begann er, trotz meines Würgegriffs zu lachen – oder versuchte es. Das Ergebnis war ein ersticktes Röcheln. Voller Zorn verstärkte ich den Druck meiner Hände, während mein Gesicht zu einer hasserfüllten Fratze wurde. Dies hinderte Qalian jedoch nicht daran, weiterzulachen. Ja, seine Augen glommen nur förmlich vor Erheiterung und Freude, und wäre nicht ich es gewesen, der den Hals des Mannes unter mir mit voller Kraft zu zerquetschen versuchte, hätte ich die Szene vermutlich für einen fingierten Schaukampf gehalten. Er macht keine Anstalten, sich aus meiner Umklammerung zu befreien. Mistkerl, elender! Du verdammtes Stück Dreck! Ich drückte fester zu. Fester. Ich fühlte, wie sich die Bartstoppeln Qalians in meine Handflächen bohrten, wie ich das warme Fleisch unter meinen Fingerkuppen eindrückte. Aber nichts geschah. Qalian lachte nur weiter, und erst als sechzig Sekunden verstrichen waren, wurde mir klar, dass jeder normale Mensch bereits das Bewusstsein hätte verlieren müssen. Aber es passierte einfach nicht. Nichts passierte! Irgendwann spürte ich, wie Qalians Gelächter erstickte, aber nicht etwa, weil ich ihn getötet hatte. Nein, in sein Gesicht – das nicht einmal rot angelaufen war! – kehrte wieder jener Ausdruck seliger Gelassenheit zurück, mit dem er den Raum betreten hatte. Mit einem Mal kam ich mir hilflos vor, hilflos und lächerlich. Zwar hatte ich Qalian nie Kämpfen gesehen, aber schon vom Tag unserer Begegnung an hatte ich die Aura der Macht gespürt, die ihn umgab wie ein Hitzeschleier ein offenes Feuer. Er war gefährlich. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Er könnte mich töten, schoss es mir durch den Kopf, einmal, zweimal, dann immer wieder, gleich einem Trommelwirbel düsterer Paukenschläge. Er könnte mich töten!

„Werde ich aber nicht“, sagte Qalian. Seine Lippen bewegten sich keinen Fingerbreit.

Dann legte er seine rechte Hand auf meine Brust, und nur eine Sekunde später flog ich wie von der Wucht einer Kanonenkugel getroffen nach hinten davon, landete mit einem heftigen Aufprall auf dem Steinboden und verlor das Bewusstsein.