Enderal:Der kluge Junge und die Wegestreue

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Der kluge Junge und die Wegestreue

Bücher Der kluge Junge und die Wegestreue
Daten
Gewicht Gewicht
1
Wert Wert
20
Autor
Hohepriester Adreyan Dal'Varek
Bemerkungen
-

Der kluge Junge und die Wegestreue ist ein Buch in Enderal – Die Trümmer der Ordnung.


Fundorte


Inhalt

Der kluge Junge und die Wegestreue


übersetzt von Hohepriester Adreyan Dal'Varek


Einst, auf einem bescheidenen, aber behaglichen Bauernhof gab es einen Mann mittleren Alters, der mit seinen drei jungen Knaben dort lebte. Er war ein ehrlicher und kluger Mann, aber hatte nach dem frühen Tod seiner Gefährtin nie mehr zu sich selbst gefunden. Obwohl seine Gefährtin ihre letzte Reise angetreten hatte, in aller Würde und Freude verabschiedet worden war und nun auf den ewigen Pfaden in ein neues, anderes Leben wandelte, war sein Leben trostlos. Weder der Anblick schöner Frauen und Männer konnte sein Herz noch erwärmen, noch die beruhigenden Worte des Priesters der Kapelle im Dorf unweit des Hofes. Eines Nachts, mit seinen drei blutjungen Knaben hungernd im kargen Haus schlafend, hob er die Hände verzweifelt gen Ark, wo der Heilige Orden in den steinernen Hallen des Sonnentempels herrschte, dem Willen Malphas' gemäß, um Tag für Tag für seine Schützlinge, die Bewohner Enderals, zu sorgen.
"Von meinen ersten Schritten in dieser Welt bis hierhin bin ich auf dem Pfad geblieben, Herr! Ich habe meine Bestimmung erfüllt, meinen Hof erbaut und Marga zur Gefährtin genommen. Ich habe getan, was mein Mal von mir verlangte. Und doch stehe ich nun hier und bin allein. Ich leide und kann meinen Knaben keine schöne Zukunft bescheren. Wäre ich bloß nie auf dieses einsame Stück Land gekommen, würde Marga jetzt noch leben, und ich wäre ein erfolgreicher Schneider, wie ich es immer sein wollte!"

Und Malphas hörte das Klagen des armen Mannes. Es erfüllte ihn mit Unglück, seine Untergebenen leiden zu sehen, doch er entschloss sich, zu warten - wohl wissend, dass der Pfad der einzig wahre war.

So verstrichen die Jahre, und der Mann erzog seine drei Sprösslinge mit Strenge und väterlicher Liebe, aber ohne Wegestreue. Er brachte sie nicht, wie es sich gehörte, bei der Vollendung ihres sechsten Lebensjahres zur Weihe, wo sie ihr Mal und ihre Bestimmung erhalten sollten.

Luzius, der älteste der drei Knaben jedoch, las trotz der harten Arbeit, die er tagtäglich verrichten musste, viel, und er fand eines Tages die verstaubten Bände des "Pfades", aus denen der Vater dem Jungen nie vorgelesen hatte. Und er verstand. Er verstand, warum seinem Vater jenes schwere Schicksal beschieden wurde, wo doch augenscheinlich andere Wege offen gewesen wären. Und so trat er eines stürmischen Herbstabends zu ihm und sprach jene Worte, die das Leben des Mannes wieder zurück in die behütenden Arme des Herren führen würden:

"Vater, ich sehe, wie sehr dich Mutters Tod noch immer grämt. Oft fragst du dich, weshalb du dieses Leben anstelle eines anderen lebst. - Und als Antwort wendetest du dich von dem Pfad ab. Und ich akzeptiere deine Entscheidung, wenn du mir denn eine Frage beantworten kannst. Fernab, in einem Land ohne Wegestreue, von dem sich die Götter abwandten, gab es ein kleines Dorf mit fünf kräftigen, gesunden Männern. Die Gemeinschaft benötigt Essen, denn ohne Fleisch und Getreide wird sie den Winter nicht überstehen. Und so ruft der Dorfälteste die fünf Männer zu sich, um ihnen ihre Aufgaben mitzuteilen. Erst hebt er einen Schmiedehammer hoch und fragt: "Wir brauchen scharfe Klingen, um uns gegen die Wölfe des Winters zu verteidigen! Wer von euch wird uns Schwerter schmieden?"

Doch keiner der Männer antwortet. Also deutet der Alte auf einen rostigen Bogen, der über dem Stammesthron aufgehängt ist. "Nun gut. Aber wir benötigen einen geschickten Bogenbauer, der uns Pfeile und Bögen anfertigt, um das Wild in der Steppe zu erledigen, damit wir frisches Fleisch zum Verzehr haben."

Doch wieder antwortet keiner der Männer. Der Alte seufzte wehmütig und sagte schließlich: "Wir können ohne Fleisch überleben, und mit etwas Glück verschonen uns die Wölfe diesen Winter. Aber wir benötigen noch einen kräftigen Bauern, der die Saat austrägt und die Ernte einbringt, bevor die Blätter beginnen zu welken."

Doch wieder schwiegen die Männer. Schließlich traten dem alten Mann Tränen in die Augen. "Was wollt ihr dann? Erklärt euch, denn ohne eure Hilfe ist unser Dorf dem Untergang geweiht!"

"Nun", sprach einer Männer, ein schöner Mann mit vollem, blonden Haar und athletischer Statur. "Ich wusste schon immer, dass es meine Berufung ist, Bilder zu malen. Ich spüre es tief in meinem Herzen, und genau das werde ich tun, und nichts anderes."

Und so überdauerte das Dorf den Winter nicht. Denn Vater, was du nicht verstanden hast: Nicht immer steht das Wohlergehen und die Selbsterfüllung eines Einzelnen an erster Stelle. In einer Gesellschaft, in der jeder nur seinem eigenen Willen folgt und seine eigene Meinung hat, kann nie Einheit und Stärke entstehen. Und jene Gemeinschaften werden nie die Zeit überdauern. Wie töricht ist es von uns, oh Vater, Tag und Nacht unser Leben zu hinterfragen. Nie werden wir auf Antworten stoßen, besitzen wir doch nicht die Göttlichkeit unseres Herren, der alles tut, um uns ein schönes Leben zu bescheren. Und selbst wenn der Pfad steinig ist - wir müssen ihn beschreiten. Und nicht nur zu unserem eigenen Wohle, sondern zum Wohle aller."

Und so fiel der arme Mann in Ehrfurcht auf die Knie gen Ark und bat mit klagenden Lauten Malphas um Verzeihung. - Hatte er doch die Wahrheit erkannt. Denn jedes einzelne Lebewesen, welches in diesen schönen Landen geboren wird, wurde von Malphas mit zwei Aufgaben betraut. Die erste und wichtigste war der Respekt und die Hochachtung vor den Göttern, jenen gnädigen Erbauern unserer Gesellschaft, die tagtäglich viele Bürden auf sich nehmen, um uns ein erfreuliches Leben zu schenken. Die zweite und nicht minder wichtige war die Wegestreue - dem Folgen der einzigen Bestimmung.

Malphas' Stimme tönte aus den steinernen Hallen, gerührt von der aufrichtigen Trauer des Mannes. Seine Worte waren an alle gerichtet, an seine treuen wie an seine untreuen Kinder:

"Oh, Kinder! Abseits eures Pfades wartet nur Finsternis und Trauer. Nicht ich bin es, der euch bestraft, sondern das Leben selbst. Grämt euch nicht, wenn eure Bestimmung weniger Lorbeeren einbringt als die eines hohen Hüters. Denn am Ende begebt ihr, oh Wegestreue, euch alle auf die letzte Reise in den Ewigen Pfade, um die große Wahrheit zu erfahren."

Dann sprach er mit gütiger Stimme zu dem verirrten Mann, dem Vater des klugen Sohnes:

"Auch dir sei vergeben. Komme zurück auf den Pfad - und ich werde dort auf dich warten."