Enderal:Erzählungen des Wanderers: Der Seraph

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Erzählungen des "Wanderers": Der Seraph

Bücher Erzählungen des "Wanderers": Der Seraph
Daten
Gewicht Gewicht
1
Wert Wert
25
Autor
Der Wanderer
Bemerkungen
-

Erzählungen des "Wanderers": Der Seraph ist ein Buch in Enderal – Die Trümmer der Ordnung.


Fundorte


Inhalt

Erzählungen des "Wanderers": Der Seraph

So sitze ich hier, alt und grau. Meine Füße haben mich schon durch alle Zeiten und Länder getragen. Doch langsam bemerke ich, dass mein Körper, meine magischen Sinne immer schwächer werden. Meine Wanderschaft neigt sich ihrem Ende zu. Ich sitze hier, blicke in das flackernde Feuer, an dem ich meine Hände wärme, in der kalten, kahlen Stube eines Gasthofes, wie ich ihn zur Hundertschaft besucht habe. Irgendwann gleichen sie alle einander, wie ein Ei dem anderen. Meine Feder kratzt über das Pergament, während draußen ein Sturm heranbricht. Ich spüre ihn schon seit langem aufziehen, die dunklen Wolken, die er mit sich bringt. Alles wird sich ändern, ihr werdet sehen. Der Fluss der Welt schlägt eine Wendung ein. Vielleicht ist das auch der Grund, wieso es für mich bald an der Zeit ist zu gehen. Diese Sage über einen ganz besonderen Kämpfer hat ein weiser Mann einst an mich weitergereicht. Sie erinnert daran, dass, egal wie dunkel die Nacht auch sein mag, immer ein neuer Morgen auf uns wartet. Und sie ist eine meiner letzten Geschichten.

Vor langer Zeit lebte ein Mann, ein Hüter des Heiligen Ordens, ein Gesandter von Malphas. Das Schlimmste für diesen Mann war es, Leid zu sehen, ganz gleich ob bei Menschen oder Tieren. Diese Eigenschaft rührte aus seiner Kindheit her, über die er niemals sprach, mit keiner Seele. Nicht, dass dieser Mann, den wir einstweilen den "Seraph" nennen wollen, viele Vertrauenspersonen um sich geschart hätte. Genau genommen war er sogar ein sehr einsamer und trauriger Mensch. Nahezu jedes Wesen legt sich im Laufe seines Lebens einen Schutz um sein Herz zu, der es vor innerem Schmerz bewahren soll. Der Seraph aber hielt sein Herz offen und ungeschützt. Er gab alles, was er imstande war zu geben, für andere.

In seinen zahlreichen Schlachten für den Orden tötete er nie einen Feind. Als Hüter, der für den Kampf Mann gegen Mann ausgebildet worden war, ist das eine höchst ungewöhnliche Eigenschaft. Er konzentrierte sich darauf, seine Kameraden heil und in einem Stück aus der Schlacht herauszuführen. Er stärkte sie mit Zaubern, errichtete magische Schilde mithilfe des Mentalismus, die Pfeilhagel abfingen. Wenn es sein musste, schützte der die Verletzten mit seinem eigenen Leib. Das Licht seiner Magie heilte ihre Wunden, wie schlimm sie auch waren, und wenn sie zu schlimm waren, wiegte er sie in den Tod, blieb bis zum letzten Atemzug an ihrer Seite. Mit seiner schweren Panzerung war er ein weißer Fels in der Brandung, ein Lichtstrahl im Kampfgemenge. Und Freunde wie Feinde dankten es ihm und verneigten sich vor seiner Gnade.

In den Zeiten des Friedens versorgte er die Bettler und Waisenkinder in der Unterstadt mit Nahrung, die er heimlich aus den Vorratskammern des Ordens stahl. Er kümmerte sich um die Verletzungen der Huren, die von ihren groben Herren misshandelt wurden. Wenn sie ihn anschließend für seine Dienste entlohnen wollten, zog er sich enthaltsam zurück. Er hätte nie eine Belohnung angenommen. Alles was er tat, tat er, um die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Denn er hatte gesehen, was der Schmerz anrichten konnte, wie Städte in Flammen aufgingen. - Er hatte all das Leid gesehen, hatte es in sein Herz gelassen. Er wollte, dass niemand dieselbe Pein verspüren sollte wie er.

Doch seine großmütigen Taten weckten nicht bei allen Wohlwollen. Es gab einige Ranghohe im Orden, denen sein Treiben missfiel. Ihre bösen Zungen sagten ihm nach, er stünde nicht voll hinter ihrer Sache, wenn er die Feinde von Malphas nicht zerschmettern konnte, sondern sie stattdessen am Leben ließ. Sie überzeugten den Großmeister und drohten ihm, seine Befugnisse und seinen Titel als Hüter zu entziehen. Er wurde vor die Probe gestellt: entweder einen Kriegsgefangenen töten oder den Orden verlassen.

Diese List brach ihn letztendlich. Beim bloßen Anblick des flehenden Mannes zu seinen Füßen wurde er vom Mitleid übermannt. Das Schwert sank ihm aus den Fingern und fiel scheppernd zu Boden. Er entschied sich, dem Orden den Rücken zu kehren. Die unsägliche Trübsal, die ihn danach erfüllte, bekämpfte er, wie er es gewohnt war: mit Licht. Er verschenkte sein gesamtes Hab und Gut, sogar sein Heim, an Ärmere, bis er selbst nichts mehr hatte außer den Kleidern, die er am Leibe trug. Ein gewaltiges Opfer, das ihm jedoch nicht den leisesten Hauch Ungemach bereitete.

Bald darauf kam der harte Winter. Er hatte keine Zuflucht, keine warmen Kleider, um sich vor der Kälte zu schützen. In einer Nacht war es so schlimm, dass er, gegen eine Hauswand gelehnt, bereits spürte, wie sich die wohligen Schwingen des Todes um seine Schultern legten. Eines der Kinder, denen er geholfen hatte, sah ihn, wie er dort saß. Es eilte geschwind los und holte seine Freunde. Die Kunde verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Bald scharten sie sich um ihn, jene, denen er das Leben erleichtert hatte. Die Kinder, die Alten, die Bettler, die Huren. Sie umringten und umarmten den Seraph, wärmten ihn, wie eine große Decke, bis die Sonne über den Dächern der Stadt aufging.