Nehrim:Die Brut

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Die Brut

Simon W. Autenrieth

Träger, feuchter Nebel stand still in der Luft und kündete noch von einem Regenschauer, der erst kürzlich über dem Wald niedergegangen war. Bis auf das gelegentliche Klappern, das Pasrems Hufe verursachten, wenn sie auf harten Grund oder eine hervorspringende Wurzel trafen, war nichts zu hören. Schon seit einiger Zeit hatte sich eine unheimliche Stille drückend und schwer über dem wäldlichen Zwielicht ausgebreitet. Hatten sie anfangs noch die Aufmerksamkeit umherschleichender Tiere auf sich gezogen, hörten sie jetzt nun nicht einmal mehr die trällernden Rufe der Blaurücken-Vögel, die für diese Gegend doch so typisch waren.

Das Fehlen dieser gefiederten Bauernplage beunruhigte Nutricina jetzt mehr als sie es je für möglich gehalten hätte. Sie kannte diese Vögel. Laut, aufdringlich und in großer Zahl bevölkerten sie die gesamte Gegend. Ein wunderschönes Muster bläulicher Federn zierte ihren Körper, doch waren sie der Fluch jedes strebsamen Landwirts.

Etwas musste die Vögel verängstigt haben. Und wenn etwas in der Lage war, diese Wesen zum Schweigen zu bringen, dann sollte sie, Nutricina gefälligst auch nicht hier sein.

Beunruhigt wandte sie ihren Blick vom schattigen Blätterdach ab und blickte um sich.

Pasrem, ihr rotbrauner Hengst, trottete ihr, mit aufmerksam aufgerichteten Ohren hinterher und schnupperte misstrauisch am spärlichen Grasbewuchs des Bodens.

Etwas raschelte im Laub. Ebenso unerwartet wie auch plötzlich wurde Nutricina mit solch unbändiger Kraft herum gerissen, dass für einen Moment der Boden vor ihrem Gesicht mit dem Kuppeldach des Waldes tauschte. Pasrem scheute, trat einige nervöse Schritte zurück und riss seinen Strick aus Nutricinas Händen. Tiefe Striemen zeichneten sich wie schmale Furchen in ihren Handflächen ab und begannen rasch zu bluten. Erst als ihr eisernes Schwert mit einem unüberhörbaren metallischen Klirren einige Meter unter ihr zu erliegen kam, merkte sie, dass sie sich immer weiter vom Waldboden entfernte.

Noch ehe Nutricina begriff, wie ihr geschah, wurde sie auch schon an ihren Haaren nach hinten gezogen. Sie hatte das Gefühl, entzwei gerissen zu werden, so überwältigend waren die Schmerzen, die sie nun verzweifelt und gellend aufschreien ließen.

Panisch trat sie mit ihren Füßen umher, traf jedoch nichts als leere, von feuchtem Nebel eingehüllte Luft und spürte, wie sie unter der Belastung ihres eigenen Gewichtes zu kollabieren drohte. Unter Aufbringung all ihrer Kraft schaffte sie es, ihre Hände hinter ihren Rücken zu drehen, um ihren Peiniger von sich abzuschütteln. Doch da war nichts. Keine Hand, keine klauenbesetzte Pranke, die sie hielt und zerquetschen wollte. Schließlich fanden ihre Hände doch etwas. Es war dünn, klebrig und so durchsichtig, dass man es von Fernem gar nicht gesehen hätte.

Augenblicklich spannten sich weitere dieser geisterhaften Stränge quer über ihren gesamten Körper. Wickelten sich um ihre Hände, fesselten sie an ihre Seiten und zogen sich schmerzhaft über ihr Gesicht.

Nicht in der Lage sich zu wehren, nicht in der Lage ihrem Gegner zu entkommen oder wenigstens einen Blick auf ihn zu werfen, verfiel sie in einen Zustand ungläubigen Entsetzens. Unaufhörlich schrie sie nach Hilfe, doch niemand würde ihr je antworten.

Pasrem trat unruhig hin und her, immer wieder drehte er sich um sich selbst, bis schließlich auch er den Boden unter seinen Füßen verlor. Etwas langes und dünnes hatte sich um seinen Torso gewickelt und zog ihn unaufhörlich immer weiter nach oben.

Ein Zittern ging durch ihren Körper und ihre Nackenhaare stellten sich auf, während sie ruckartig weiter an Höhe gewann. Plötzlich war Pasrem vollständig aus ihrem Sichtfeld verschwunden. Es gelang ihr nicht, den Kopf zu drehen um nach oben zu schauen. Sie hatte Angst. Furchtbare Angst. Sich windend wie eine Schlange versuchte sie ihre Fesseln abzustreifen, doch diese schienen sich dagegen zu wehren. Sie waren warm. Warm, fest und auf eine erschreckende Art lebendig.

Plötzlich bohrte sich etwas von der Größe eines Dolchs tief in ihren Arm. Die Schmerzen waren unerträglich. Sie versuchte zu schreien, doch es gelang ihr nur ein unterdrücktes Keuchen, als sie sah, dass sich etwas Langes, Dünnes und Schwarzes in ihr Blickfeld schlängelte. Sie konnte nicht anders, als dieses Ding mit vor Schrecken geweiteten Augen anzusehen. Zuckend und pulsierend wand es sich dich vor ihrem Gesicht. Der stechende Geruch nach Verwesung und Tod raubte ihr den Atem. Jäh spürte sie etwas an ihrem Rücken. Ebenfalls warm und lebendig. Nur schien es ungleich größer zu sein.

Dann passierte etwas. Etwas, das ihr noch viel schlimmer schien als alles, was bisher mit ihr geschehen war. Zuerst schien es nur ein leichtes Kribbeln in ihrem Nacken, das sich langsam steigerte. Doch dann bemerkte sie die winzigen und schnellen Bewegungen, die sich kreisförmig über ihren gesamten Körper ausbreiteten. Das Wiehern eines sterbenden Pferdes drang erschreckend nah an ihre Ohren. Es gelang ihr nicht mehr, einen klaren Gedanken zu fassen. Sie wusste nun, dass sie den Tag nicht überleben würde. Hier und heute würde auch sie sterben.

Ihr Blick verriet nichts als Grauen, als ihr Mund plötzlich gewaltsam geöffnet wurde.

Eine Kaskade Blut floss in schmierigen Strömen ihr Gesicht hinunter. Ehe sie sich wundern konnte, wie heiß und dickflüssig es war, drangen schon die ersten Tropfen in ihren offen stehenden Mund hinein. Doch es war nicht ihr Blut, das wusste sie. Kurz blitzte Pasrem in ihren Gedanken auf, ertrank jedoch fast sofort im Meer aus blankem Horror, das ihren Kopf nun zu beherrschen schien.
Würgend versuchte sie sich dagegen zu wehren und das nach Kupfer schmeckende Zeug wieder auszuspucken, doch es gelang ihr nicht. Dünne, klebrige Fäden hielten sie davon ab, ihren Mund zu schließen. Nass und eklig drang das Blut ihren Rachen hinab und sammelte sich in ihrem Magen. Ausläufer der dünnen, sich windenden, schwarzen Fäden suchten sich nun ebenfalls ihren Weg in sie hinein. Wickelten sich um ihren Gaumen und erweiterten ihren Hals, um Platz zu schaffen für das, was nun geschah.

Das Kribbeln in ihrem Nacken und auf ihrem Körper war beständig stärker geworden. Doch nun konnte sie sehen, woher es kam. Sie konnte nun erkennen, was es war. Würgend versuchte sie ein letztes Mal, dem zu entgehen. Doch sie hatte keine Chance. Schon waren die ersten, schwarzen Tierchen in ihrer Mundhöhle. Acht kleine Beine, durch winzige Gelenke mit einem feucht glänzenden Körper verbunden. Tausende kleiner Augen starrten sie leblos an. Ohne inne zu halten krabbelten die winzigen Spinnen hundertfach in sie hinein. Ein Strom aus schwarzen pulsierenden Leibern. Sie konnte sie in sich spüren. Wie sie sich bewegten und in jeden Winkel ihres Magens vordrangen.

Doch plötzlich hörte es auf. Es kamen keine Spinnen mehr. Der Strom hatte aufgehört zu fließen.

Dafür spürte sie plötzlich, wie sich die Fäden mit schmatzenden Geräuschen wieder aus ihrem Mund zurückzogen. Auch in ihrem Körper bewegte sich nichts mehr. Es war, als hätte es die Spinnen niemals gegeben. Fast behutsam senkte sich ihr Körper wieder auf den Waldboden hinab. Die Fesseln lösten sich. Mit einem Mal war sie frei.

Überrascht musste sie feststellen, dass sie stehen konnte. Ihr war weder schwindlig, noch war ihr schlecht. Aber ihr Magen fühlte sich an, als hätte man ihn mit Wolle ausgestopft. Die ganze Situation kam ihr plötzlich unwirklich vor. War das ganze eben tatsächlich geschehen? Oder hatte sie sich nur alles eingebildet? Sie betrachtete ihren verletzten Arm. Nutricina war so verblüfft, dass sie ihn einen Moment lang einfach nur ungläubig anstarren konnte, ehe sie begriff, was sie sah. Da war keine Wunde. Aber sie war sich sicher, dass sie etwas Großes gebissen hatte. Wo war also die Verletzung geblieben? Sie erinnerte sich plötzlich an ihre Hände. Fast ängstlich hielt sie die geballten Fäuste vor ihr Gesicht. In der Erwartung, zwei blutige Einschnitte zu sehen, öffnete sie diese. Doch sie sah nichts. Dort, wo sie das rohe Fleisch hätte sehen müssen, war nichts als normale, heile Haut. Sollte sie am Ende doch nur alles geträumt haben? War hier schwarze Magie am Werk gewesen?

Erst der Aufprall eines schweren, blutüberströmten Kadavers direkt vor ihren Füßen holte sie wieder in die Wirklichkeit zurück. Es war ein Pferd. Oder was noch davon übrig war. Der gesamte Rumpf fehlte, die Vorderbeine standen in einem seltsamen Winkel vom Körper ab und der Kopf...

Nutricina brachte es nicht fertig, länger hinzusehen und wandte sich ab. Es war Pasrem, da war sie sicher. Und er war tot. Sie hatte sich nichts eingebildet. Es war geschehen. Die Spinnen waren da. Sie waren in ihr. In ihr drin. In ihrem Körper. Und sie würden sie töten. Sie würden sie langsam und qualvoll von innen heraus fressen.

Schließlich gelang es ihr den Kopf zu heben und in das dichte Blätterdach zu starren. Doch da war nichts. Nur Bäume und Wald. Aber Pasrem war tot. Und die Spinnen waren in ihr. In ihr drin. Und das war der einzige Gedanke, der nun noch zählte. Spinnen. In ihrem Körper. Viele. Hunderte. Und sie würden wachsen und sie fressen. Sie waren in ihr drin!

Ein kalte Woge aufkommender Panik lief ihr den Rücken hinunter. Sie musst hier weg. Schnell. Es war ihr vollkommen egal wohin. Nur weg. Weg von den Kadaver. Weg von dem Wald und weg von den Spinnen, die in den Bäumen lauerten.

Sie begann zu rennen, erst langsam, dann immer schneller, so schnell bis ihre Beine schmerzten. Tief sog sie die Luft in ihre Lungen. Sie spürte, wie sich die Lungenflügel in ihr aufblähten und damit noch etwas anderes: Ein, nein hunderte Leiber, die sich in ihr befanden und nur unwillig dem Takt ihrer atmenden Lunge wichen.

Sie waren in ihr. In ihr drin.

Ein stechender Schmerz ließ sie der Länge nach zu Boden gehen. Sie spuckte Blut. Doch diesmal war sie sich nicht sicher, ob es noch das Blut ihres Pferdes war, das sie nun schmeckte. Sie versuchte sich zu übergeben und die Spinnen loszuwerden, doch sie schaffte es nicht. Etwas hielt ihren Hals zusammen. Schnürte ihn von innen zu. Einen Moment lang dachte sie an die Fäden, die sie in der Luft gehalten hatten. An die dicken, pulsierenden Seile, in denen sie gehangen hatte. Und dann wusste sie, was die Spinnen nun in ihr machten. Sie spinnen ihr Netz, sie bauen ihr Nest. Sie schnüren ihr die Luft ab. Sie würden sie zuerst ersticken und dann fressen. Sie würden sie fressen.

Sie konnte nicht mehr schreien. Sie hatte es aufgegeben. Rasselnd und irgendwie undeutlich drangen gurgelnde Geräusche aus ihrem Hals, als sie versuchte sich wieder aufzurichten. Es gelang ihr inzwischen fast nicht mehr zu atmen. Schwankend stand sie schließlich wieder auf ihren Beinen. Als sie drohte, abermals zu fallen, lehnte sie sich rücklings an einen großen Baum. Seine Rinde stach schmerzhaft in ihren Rücken. Doch das störte sie jetzt nicht mehr. Sie dachte nur an die Spinnen.

Sie waren in ihr. In ihr drin.

Doch als sie schon dachte, an diesen Baum gelehnt, nun qualvoll ersticken zu müssen, war ihr Hals plötzlich wieder frei. Sie bekam wieder Luft. Sie konnte wieder frei atmen. Schlagartig wurde ihr bewusst, dass die Spinnen sie brauchten. Lebend. Sie brauchten ihre Wärme um zu wachsen. Sie hatten sie nur daran gehindert, sie loszuwerden. Sie wollten in ihr bleiben. Sie wollten sie lebend. Nutricina wäre es lieber gewesen, sie hätten sie sterben lassen. Jetzt und in diesem Moment. Aber die Spinnen wollten das nicht, denn sie waren in ihr. In ihr drin.

Und sie würden sie fressen, wenn die Zeit dazu gekommen wäre. War ihr Leben nun zuende? Wie lange würden die Spinnen sie am Leben lassen, halten? Tage, Wochen oder sogar Monate? Würden sie ihren Körper vielleicht sogar über Jahre hinweg besetzten?

Der Gedanke daran, ihr Leben vielleicht für immer mit den Spinnen teilen zu müssen, erfüllte sie mit unbändigem Grauen. Und diesmal konnte sie schreien. Lange und laut. Doch sie wusste, das sie trotzdem nicht gehört werden konnte. Dafür würden ihre kleinen Begleiter sorgen. Zumindest dann nicht, wenn ihre Begleiter es nicht wollten. Dessen war sie sich sicher. Denn die Spinnen waren in ihr. In ihr drin.