Nehrim:Die Graue Blüte - Band II

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Über Ostian wölbte sich ein sternenklarer Nachthimmel. Alles schwieg, man hörte nur das ruhige Rauschen der Wellen vom Hafen her. Ab und zu vernahm man die Schritte einer Nachtwache auf der Straße. Es war angenehm kühl über Nacht geworden.
Am nördlichen Rand des großen Marktplatzes standen mehrere Häuserreihen auf steilen Plateaus. In einer dieser Häuserreihen, in einem einzigen kleinen Raum im Erdgeschoss schliefen Aryona und Feodor beisammen auf einem Bett. Dazwischen lag ihr Sohn, Seylon, inzwischen ein gesunder Junge von sieben Jahren, eng an seine Mutter geschmiegt. Der hellichte Mond schien durch die zwei winzigen Fenster auf das Menschenbündel nieder. Die Familie ruhte friedlich dem nächsten Morgen entgegen.

Seylon erwachte. Er reckte sich auf dem großen Bett. Niemand lag bei ihm.
Der Vater arbeitete schon längst. Er war inzwischen Schmiedemeister, doch leider ging sein Erzeugnis nicht an den Tempel, sondern an das allgemeine Volk. Neben den Bewohnern der Stadt versorgte er aber auch einige andere Händler, sogar aus fernen Städten wie Erothin, über den Warentransport übersee mit Kriegsausrüstung, Werkzeug und sonstigem technischen Gerät.
Er verdiente zwar nicht so viel wie ein Meister beim Tempel aber allenfalls genug, um die Bedürfnisse seiner Familie vollständig zu befriedigen. Wie bereits erwähnt, sparte er das Restgeld für eine bessere Wohnung. Feodor war ein tüchtiger und sorgvoller Mann, der bis in den Abend hinein in der stickigen Schmiede zu tun hatte. Seylon sollte irgendwann sein Lehrling werden, doch der lag jetzt, in seinem Alter, faulenzend auf dem Bett.
Seine Mutter erledigte eifrig wie jeden Tag die Hausarbeit. Seylon fragte sich, warum sie es nicht allmählich leid wurde, immer wieder das gleiche zu tun. Sie entgegnete auf diese Frage: “Man sollte beachten, für wen ich es tue.” Daraufhin lächelte sie ihren Sohn an.
Dieser erhob sich nun in den Schneidersitz und fühlte das Tageslicht. Seine Pupillen wurden von der strahlenden, hellgrauen Iris zu winzigen Punkten verengt. Der Junge trug pechschwarzes, schulterlanges Haar, welches ihm ab und zu ins Gesicht hing.
Er schaute sich im Raum um und war noch leicht benommen. Er sah einen Haufen Obst auf einem Teller. “Das ist dein Frühstück.” sagte Aryona und zeigte auf die zerschnittenen Früchte. Seylon setzte sich an den Tisch und aß langsam sein erstes Mahl. Währenddessen wechselten Mutter und Sohn einige Worte: “Hast du denn etwas geträumt?” fragte sie. Er antwortete: “Nein. Ich träume selten. Mir kommt es meist so vor, dass ich einschlafe, dann einen Moment in der Leere herumschwebe und dann wenige Zeit später erwache.”
“Sei froh darüber. Du schläfst gut. Ich hingegen träume fast jede Nacht, sowohl gut, als auch schlecht.”
Der Junge bejahte die Worte seiner Mutter unverständlich.
Als er den ganzen Haufen Obst fertig verspeist hatte, wusch er sich mit einem feuchten Stofflappen und zog sich eine Hose an. Ansonsten trug er keine weitere Kleidung, noch nicht einmal Schuhe. Seine Eltern hatten nichts dagegen, schließlich war es draußen heiß und das Laufen auf nackten Füßen war wesentlich gesünder.

“Darf ich nun nach draußen?” fragte Seylon mit großen Augen seine Mutter. Selbst nach so langer Zeit beeindruckten die stechenden Augen des Sohnes die Frau immer noch.
“Geh schon, aber komm zu Mittag wieder.”
“Vielen Dank, Mutter.” und schon hastete der Junge durch die Tür, die Treppen hinunter auf den Marktplatz. Er rannte querfeldein durch die Menge und fand sich darauf am Hafen wieder. Dort wohnte sein einziger und bester Freund Remar.
Remar war das dritte Kind einer sehr armen Familie. Insgesamt besaß sie fünf Kinder. Der erste, größte Sohn arbeitete im Moment als Matrose und war somit nie daheim. Doch im Gegenzug brachte er immer wieder faszinierende Geschichten aus den anderen, fernen Ecken Nehrims mit. Der Rest der Kinderschar arbeitete wenig bis gar nicht. Remar war ebenso alt wie Seylon und erledigte für einige Händler Botengänge. Sein Vater war verschwunden, als er eines Nachts aus Ostian auswandern wollte. Er verscholl wahrscheinlich in der Wüste. Zurück ließ er seine Frau und fünf Kinder, die nun schwer für ihr Wohlergehen zu schuften hatten.
Seylon war fast ein wenig froh, nicht in solchen Verhältnissen aufgewachsen zu sein. Remar wollte so wenig wie möglich mit seiner Familie zu tun haben. Diese Sippe war nicht sehr beliebt, weil die Mutter eine ungeheuer genervte Person war. Allerdings tat Remar das Leid und so erledigte er für seine Brüder und Schwestern diese Arbeit.
Abermals holte Seylon seinen Freund ab. Gemeinsam suchten sie sich einen Händler, der einen Botengang belohnen konnte. Zur Hälfte der Versuche gelangten sie in der Schmiede von Feodor an, der immer die Ladungsgenehmigung auf einem Handelsschiff am Hafen benötigte. So auch heute.
“Ihr wisst schon, wo ihr hin müsst.” sprach der Schmied und gab den Jungen den Umschlag. “Die Belohnung folgt, wenn ihr mit den ausgefüllten Formularen wieder hier aufkreuzt.”
Remar nickte und ging voraus. Seylon umarmte schnell seinen Vater und lief dann hinterher. Der Weg zum Hafen war nicht sonderlich weit.
Beim Hafenmeister angekommen, stellten sie sich sofort vor und überreichten dem Alten das Formular. Er war ein Angestellter des Tempels. Seylon hatte immer im Hinterkopf, dass diese Leute keine guten Menschen waren, aus für ihn unerfindlichen Gründen, seine Mutter versuchte ihm dieses wiederholt einzuprägen.

Der Hafenmeister musterte die Freunde und murmelte “Ah, ihr seid es wieder.” daher. Er unterschrieb mit krakeligem Schriftzug das Formular und setzte das Siegel des Tempels darauf. Dann notierte er die zu ladenden Waren und ihren Verantwortlichen auf einer Liste.
“Hier, bringt das zurück zu eurem Absender.” befahl der Alte ruhig und verabschiedete sich kurz. Remar nahm den Umschlag an sich und rannte zusammen mit Seylon zurück zur Schmiede. Seylons Vater sah sich die Genehmigung an und war erfreut über die Erlaubnis. Er griff in die Kasse und holte etwa fünfzehn Goldstücke heraus. Das war viel mehr, als sie von anderen Händlern bekamen. Remar packte sich die Taschen voll und schlenderte mit seinem Freund zurück in das kleine Haus am Hafen. Er ging hinein und hinterließ das Geld wie üblich in einer Schublade im Nachttisch seiner Mutter. Seylon wartete währenddessen draußen.
Als Remar aus der Tür trat, planten die beiden die folgenden Stunden.
Seylon fragte zuerst: “Hast du schon gegessen?”
“Ja” entgegnete der dürre Freund. Seine Familie hatte nicht immer genügend Geld für ihre Nahrung. Hätte er nichts zum Frühstück gegessen, hätte ihm Seylon etwas von einem Händler gestohlen. Remar behagte dies allerdings nicht, Selyon hingegen fand Spaß daran.
“Na dann ist ja gut.” sprach er.
“Also klettern wir?”
“Gute Idee.”
Da die Sonne zum Vormittag noch nicht sonderlich hoch stand und die Luft erträglich war, kletterten die beiden Kumpanen um die Zeit auf den Häusern des Armenviertels herum. Es bereitete ihnen großen Spaß von Dach zu Dach zu springen und sich an den von außen befestigten Querbalken hochzuhangeln. Es wurde nicht gern gesehen, aber dennoch ignoriert.
Wenn Seylon und Remar außer Puste waren, legten sie sich meist auf ein Dach und sonnten sich. Sie genossen das kindliche Leben in vollen Zügen. Manchmal nickten sie dabei ein.
Manch einer fragte sich, warum diese Zwei sich hatten und sonst niemand anderen zum Freund. Nun, es war die einfache Tatsache, dass Seylon und Remar anders als die gewöhnlichen Kinder Ostians waren. Die anderen beschäftigten sich durchgehend mit irgendwelchen Machtspielen, die zum Schluss einen Gewinner und einen Verlierer preisgaben. Der Gewinner war sozusagen der große Held und Anführer der Kinderschar. Der Verlierer wurde ausgestoßen. Die beiden Freunde waren solche 'Verlierer'. Schließlich waren sie es leid, ausgestoßen zu werden und taten ihr eigenes Ding. So fanden sie sich.
Die Sonne gewann an Höhe, was Seylon daran erinnerte, dass er mittags zuhause sein musste, zudem es auf den Dächern in der Mittagshitze unaushaltbar wurde.

Er hievte seinen Freund hoch, stieg vom Haus herunter und führte ihn zu sich nach Haus. Dort wartete bereits ein weiterer Haufen Obst und Aryona, die den beiden Unterricht in Lesen, Schreiben und Rechnen gab, wenn zwar weniger rationell, aber genügend, um durchs Leben zu kommen.
Die Freunde verspeisten zu aller erst das Essen zu gleichen Teilen. Die Mutter holte ein paar Seiten Pergament und einen Kohlestift aus einer Schublade im Schrank heraus und setzte sich zu den Jungs an den Tisch. Sie lehrte ihnen die Buchstaben und wie man aus ihnen Wörter bilden konnte. Remar und Seylon nahmen ihren Unterricht ernst, denn sie wussten, würden sie diese Dinge nicht erlernen, würden sie nicht vernünftig leben können, auch wenn der Stoff manchmal etwas trist war. Jedoch machte das Rechnen den meisten Spaß, da es sehr praktisch verbunden war. Sie lernten auf diesem Gebiet schnell, indem sie die Anzahl jeglicher Gegenstände, die sich im Raum befanden, zusammenzählten, addierten und verfielfachten.
Die Mutter war nach einer Stunde fertig. Remar bedankte sich höflich für das Mahl und Seylon bekam einen Kuss von seiner Mutter. “Gut gemacht, Jungs. Ich sehe schon, ihr seid es leid zu sitzen. Wir gehen gleich ans Meer.”
Die Freunde machten große Augen und lächelten einander zu. Die Mutter ging beinahe jeden Tag mit ihrem Sohn und dessen Freund an den Strand im Südosten Ostians. Dieser war nicht so bebaut und dreckig wie der Hafen im Südwesten der Stadt. Es war ein flacher, weißer Sandstrand.
Aryona packte drei Badetücher in einen Beutel und machte sich mit den Jungen voraus an den Strand. Inzwischen nahm die Menschenmasse auf dem Marktplatz zu. Es waren nicht nur die Bewohner Ostians, die hier einkauften, sondern auch viele Hergereiste und Händler aus fast allen Ecken des Landes.
Die kleine Gruppe kämpfte sich durch das rege Treiben. Es folgte ein gemächlicher Fußmarsch durch das Bürgerviertel Ostians. Von dieser Hauptstraße aus konnte man zur Linken den wahrhaft riesigen Tempelpalast bewundern. Jedoch blickte Aryona verächtlich zu Boden, als sie dieses schändliche Gemäuer zu Gesicht bekam. Die Jungen bewunderten lautstark den gewaltigen Bau.
Nach ein paar Minuten zu Fuß sah man auch schon die große Brücke zum Steinbruch, zu deren Rechten sich der Strand erstreckte.
Neben der Mutter, ihrem Sohn und seinem Freund waren auch wenige andere Familien anwesend. Die Jungen rannten aufgeregt in das kühle Nass, während sich Aryona zu ihren Bekannten gesellte.
Das Wasser war beachtlich warm, bot aber trotzdem mehr als genügend Erfrischung für jene, die es genießen wollten.
Remar und Seylon spritzten sich nass und sprangen vergnügt im flachen Wasser herum. Weiter westwärts lagen einige Felsen im Wasser, an denen sich zahlreiche bunte Fische tummelten. Die beiden Freunde konnten ewig den Wassertieren zuschauen und tauchen.
Allmählig wurde es auch Aryona zu heiß und so watete sie mit hochgekrempelten Hosen durch das flache Wasser in der Nähe zum Ufer. Kurz darauf kamen auch schon die beiden Kinder und spritzten die Frau heimtückisch von hinten nass. Das war der Mutter Erfrischung genug.
Sie breitete ein Badetuch im Sand aus und legte sich zum Trocknen in die pralle Sonne. Die Kinder tollten weiterhin im Wasser herum.
Langsam brach die Abenddämmerung an. Aryona erwachte von ihrem kurzzeitigen Schlaf und rief die Jungen zu sich. Widerwillig krochen sie zu der Frau. “Eure Haut ist schon ganz verschrumpelt, wollt ihr denn so enden wie der Schrumpelmann*?” Die Kinder schüttelten den Kopf und trockneten sich eigens mit den übergroßen Badetüchern ab.
Es folgte der Weg nach Hause. Remar und Seylon verabschiedeten sich auf dem Marktplatz mit einer Umarmung voneinander. Remar schlenderte, seine Hosen noch durchnässt vom Wasser, in Richtung Hafen. Aryona und Seylon gingen in ihre Wohnung auf einem der Felsplateaus.
Seylon wusch sich rasch und ging dann müde und ausgeleiert zu Bett.
Zum Abendessen hatte er keinen Appetit mehr.
Seine Mutter las bei kerzenlicht in der ostianischen Zeitung, die auf dem Markt kostenlos verteilt wurde. Skeptisch musterte sie den Bericht eines sogenannten Priesters, geeigneter wäre der Begriff 'Steuereintreiber':
“Immer mehr junge Menschen wollen für den Tempel arbeiten, da dieser ihnen gute Arbeit mit reichlichem Lohn bietet. Allerdings ist die Ausbildung dafür sehr aufwändig und teuer, weshalb die Steuern für alle Bürger um ein Geringes erhöht werden müssen. Wir bitten um Euer Verständnis.”
Wütend ließ Aryona die Zeitung zu Tisch sinken. Der Tempel kassierte nur für sich die höheren Steuern. Wenn überhaupt jemand für den Tempel arbeiten durfte, dann die reichen Leute aus dem Bürgerviertel und diese hatten nicht viele Kinder, so schien es. Jemand aus dem Armen- oder Hafenviertel hatte nicht einmal das 'Privileg' dazu, für den Tempel zu arbeiten. Feodor war eine Ausnahme, da er ja nur als Lehrling beschäftigt war und unter dem Schutz seines Meisters stand. Nun schuftete er in einer Schmiede an der Grenze zwischen Bürger- und Armenviertel und bekam für seine größere Bemühung weit weniger Geld als ein normaler Händler, der für den Tempel arbeitete.
Das laute Klopfen ihres Mannes entriss Aryona aus ihrem Gedankenstrom. Feodor stand mit seiner Schürze in der Tür und küsste seine Frau. Sie setzten sich zu Tisch und unterhielten sich kurz, bevor Feodor, so erschöpft wie er war, ebenfalls zu Bett ging.
“Dieser vermaledeite Tempel erhöht abermals die Steuern.” regte sich Aryona auf.

“Jetzt bleib mal ruhig. Es ist schließlich nicht so, dass wir sie nicht bezahlen könnten. Ich verdiene selbst für solche Fälle genügend Geld.” entgegnete er sanft.

“Aber denk doch mal an die Armen, die das nicht so geschickt hinbekommen wie wir, die, die wirklich arm sind.”
“Denen müsste man die Steuern entfallen lassen und sie stattdessen fördern.”
“Denkst du, diese Institution ist so gutherzig zu den kleinen Leuten? Was mich verdutzt ist, dass die Reichen in dieser Stadt das Wenigste an Steuern bezahlen müssen, da sie, meines Urteils nach, für den Tempel die größte Geldquelle sind und deswegen besser belohnt werden. Die Armen bringen dem Tempel nichts, er könnte genau so gut auch ohne sie leben, also, wozu sie fördern?”
“Eine Problematik, die du schon oft genug mit mir dikutiertest. Ich bin müde und nicht in Stimmung darüber nachzudenken.”
“Sei nicht so ignorant, die Leute, die sich vom Elend abwenden, sind schlicht und einfach feige.”
“Was will man denn tun? Eine Revolte? Der Tempel, insbesondere die ostianische Wache ist zu mächtig, um sich in dieser geringen Masse gegen ihn zu lehnen. Wer einen Aufruhr verursacht, wird sofort beseitigt, vergiss das nicht.”
Aryona seufzte. “Du hast ja Recht. Ich habe auch Angst.”
Feodor legte sich zu Bett und schlief auch sofort neben seinem Sohn ein. Aryona legte sich kurz danach hinzu.

Dies war ein gewöhnlicher Tag im Leben und aus der Sicht dieser Familie. Von außen betrachtet schien jeder Tag dem anderen zu gleichen, doch die Wechselwirkung mancher Emotionen und Geschehnisse ließ es selten langweilig werden.
Die Nacht verging abermals still und ruhig.
Seylon wachte ebenso auf wie am vorigen Morgen. Er freute sich schon auf Remar. Doch seine Vorfreude wurde jäh von dem Vorhaben seiner Mutter gebremst. Sie fragte ruhig: “Weißt du, welchen Tag wir heute haben?” Seylon überlegte kurz und gab in widerwilligem Tonfall zur Antwort: “Bettag.”
Eine halbe Stunde später fand er sich an der Hand seiner Mutter auf der befestigten Allee zum Tempel wieder. Sie gingen in das riesenhafte Gebäude hinein. Durch eine mächtige, hölzerne Pforte traten sie stillschweigend in den Tempel ein.
Ein 'Steuereintreiber' mit einer Liste in der Hand verlangte sofort nach dem Namen und Wohnort von Aryona. Sie gab ihm die Auskunft. Er blätterte in den Aufzeichnungen und entdeckte sie zwischen zahlreichen anderen Bürgern. “Ihr Mann hat bereits heute früh gezahlt. Ich danke euch vielmals. Ich bitte euch nun dem Gebet zuzuhören.” sagte der kleine Mann und verbeugte sich vor ihr.
Aryona und Seylon fanden einen Platz in den vordersten Reihen der Bänke. Aryona leihte dem Gebetsgesang des Priesters ihr Ohr. Es gefiel ihr, ihm zu lauschen. Sie war zwar nicht gläubig, mochte aber die Religion und ihre Botschaft. Sie verabscheute nur die Institution.
Seylon saß gelangweilt da und plante in Gedanken den folgenden Tag.
Endlich beendete der Priester sein Gebet und der Sohn zerrte seine Mutter aufgeregt aus dem Tempelpalast. “Darf ich jetzt zu Remar?” fragte er wieder mit kugelrunden, gläzenden, großen Augen. “Von mir aus. Aber du musst wie gesagt mittags daheim sein, hast du verstanden?”
“Ja.” Seylon umarmte seine Mutter herzlich und sprintete die Allee des Tempelpalastes entlang, rechts durch das Bürgerviertel, sich links haltend durch den Marktplatz und schließlich zum Haus von Remars Familie im Hafenviertel.
Er klopfte an der Tür und es war Remar, der ihm aufmachte. Er sah blass aus.
“Lass mich raten – du hast nichts gegessen?” erkundigte sich Seylon.
“Noch nicht einmal gestern Abend. Meine Mutter kratzte noch das letzte Geld für die Steuern zusammen, sodass nichts fürs Essen übrig blieb.” Remar hörte sich schwach an.
“Nun ja, ich hoffe, du weißt, was ich nun für dich tun werde. Bei mir zu Haus gibt es zu dieser frühen Stunde auch noch nichts, wir waren heute Morgen auch im Tempel und da hatte meine Mutter keine Zeit einzukaufen.”
Remar sagte nichts. Seylon sah ihm mit seinem stechenden Blick an und forschte: “Wir ziehen das jetzt durch! Diese Schweine brauchen sich nicht wundern, dass so arme Kinder stehlen, wenn sie nicht mal das Geld für Nahrung haben” so ähnlich sagte das auch seine Mutter.
Der Junge schleppte Remar zum Marktplatz. Er war bereits erfahren darin, Händler zu bestehlen. Am einfachsten ging das natürlich, wenn der Händler gerade beschäftigt war, man sich schnell das Diebesgut schnappte und unter der Kleidung versteckte. Diese Prozedur musste äußerst schnell verlaufen.
Diesmal legte Seylon Remars Weste an. Er peilte einen Händler an, der gerade unter dem Tisch mit irgendwelchem verschütteten Wein beschäftigt war. Zügig schritten Seylon und Remar an der Seite des Stands entlang, während Seylon kurz die Weste lüftete und dabei drei Äpfel darunter verschwinden ließ.
Die Jungen beschleunigten ihren Schritt bis sie sich hinter der hohen Mauer zum Hafen verstecken konnten. Sie setzten sich in den Schatten. Gierig nahm sich Remar einen Apfel und biss hinein. Das Fruchtfleisch spritzte. Seylon war stolz auf sich. Doch dieses Gefühl währte nicht lang, denn nach wenigen Sekunden schon trat eine stämmige Wache hinter der Wand hervor, packte Seylon an der Schulter und zog ihn hoch. Remar stand langsam auf und blieb wie angewurzelt stehen. Der Saft des Apfels tropfte von seinem Kinn. Seylon sah ihn verängstigt an.
“Folgt mir!” forschte die Wache energisch. Der Mann zerrte die Kinder hinter sich her. Sein Griff schmerzte. Seylon hasste es, von fremden Menschen berührt zu werden.
Der Wachmann führte sie in den nächsten Wachturm. Gleich im Erdgeschoss stand ein edler, hölzernder Schreibtisch mit jeder Menge Papiergewirr.
Der Mann sprach wie vom Blatt gelesen: “Ihr werdet des Diebstahls für schuldig befunden. Nach ostianischem Gesetz, Paragraph achtzehn, Absatz vier erfolgt eine Strafe in Form von Geldzahlung.” Der Mann blätterte in einem kleinen Buch und setzte fort. “von exakt 40 Goldstücken von jedem von euch.” Kühl und mit starrem Blick musterten die kleinen, blauen Augen des Mannes die beiden heruntergekommenen Jungen.
Seylon stand errötet da und war steif vor Scham. Remar hingegen zitterten die Hände, er hatte große Angst, wie sollte er das bezahlen?