Enderal:Bericht eines unbekannten Reisenden, Band 3

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Bericht eines unbekannten Reisenden, Band 3

Bericht eines unbekannten Reisenden, Band 3
Daten
Gewicht Gewicht
1
Wert Wert
35
Autor
Unbekannt
Bemerkungen


Fundorte


Inhalt

Die Erschließung, 1. Tag im Jahr 4024:

Wir haben gesiegt. Die Schlacht war grausam, grausamer als alles, das ich bisher erlebt habe. Etliche Tote tränkten die Erde mit ihrem Blut und weichten sie auf. Die verfeindeten Stämme waren zu Hunderten erschienen. Sie hatten ihre Gesichter wie Totenköpfe bemalt und ihre restliche Haut mit schwarzer Farbe bedeckt. Mit Schreien und tobenden Tänzen hatten sie versucht, uns einzuschüchtern. Sie hatten Gefangene der letzten Schlachten vor den Augen der Knochenfrau unseres Stammes töten lassen. Die Provokationen schürten nur die Mordlust in den Reihen der Skaraggs. Ich hielt mich während der Schlacht im Hintergrund und versuchte Kkraka im Auge zu behalten. In dem Getümmel war es mir unmöglich. Speere und Steinschleudergeschosse flogen kreuz und quer, zertrümmerten Schädel und ließen Knochen splittern. Kampfgebrüll zeriss die Luft. In einer Schlacht auf freiem Feld, ohne Strategie, ohne großes Kriegsgerät, in der es um puren Überlebenswillen ging, setzte sich unser Stamm schließlich durch. Die letzten Krieger des Feindes wurden in die weite Ödnis vertrieben. Ich war gezwungen zu töten. Es war unvermeidlich, während ich versuchte, mich um die Verwundeten zu kümmern. Wir zählen hohe Verluste. Die Knochenfrau ließ keine Gnade walten und skalpierte alle feindlichen Krieger, die nicht entkommen konnten. Die Flüchtenden ließ sie verfolgen, ehe nicht auch der Letzte von ihnen das Zeitliche gesegnet hatte. Eine Nacht und einen ganzen Tag lang dauern die Feierlichkeiten nun schon an. Die Skaraggs tanzen um ein großes Feuer herum und benebeln sich mit Dämpfen, die sie in tranceartige Zustände versetzen. Sie singen, vögeln und feiern, als gäbe es kein Morgen. Ich zog mich alsbald zurück, um die Verwundeten zu pflegen. Für meinen Teil bin ich nur froh, dass Kkraka heil aus dem Kampf herausgekommen ist. Sie bei ihren Orgien mit vier verschiedenen Männern in einer Nacht zu beobachten, hätte mich nur unnötig aufgeregt. Ich brauche Ruhe, um das Erlebte zu verdauen. Der Verlauf der Schlacht wird unklarer, wenn ich versuche mich genauer an sie zu erinnern. Mein Kopf verdrängt sie und will vergessen. Ich, wie ich einem liegenden Krieger des Feindes meinen Speer durch seine weiche Bauchdecke bohre. Ich, wie ich einen Stein aufnehme und damit den Schädel eines Mannes einschlage, der mit der gleichen Berechtigung wie ich in diesen Kampf gezogen war. Zuerst seine unsägliche Furcht, wenn er begreift, dass er sterben wird. Aber nur für die Bruchteile eines Augenblicks. Dann der letzte Lebensschimmer, der aus seinen Augen weicht, der Odem des Todes. Das sehe ich, wenn ich meine Augen schließe.


Die Erschließung, 7. Tag im Jahr 4024:

Mir ist kaum nach schreiben zumute. Seit der Schlacht fühle ich mich seltsam aus meinem Körper herausgezogen, als stünde ich neben mir. Meine Handgriffe zur Versorgung der Verwundeten laufen ohne mein gedankliches Zutun ab. Mein Kopf bewegt sich dabei in Sphären der absoluten Leere. Das vermag auch Kkrakas innige Lust und Liebe nicht zu verändern. Ihre Unbezähmbarkeit hat sich nach dem furiosen Sieg noch weiter gesteigert. Ich habe fürchterliche Alpträume. Hauptsächlich handeln sie von den Ereignissen in der Schlacht, doch enden sie alle damit, dass ich sehe, wie ich in die dunkle Höhle schreite und darin verschwinde. Der Schlund zieht mich magisch an. Über den Tag verteilt beobachte ich ihn mehrmals. Manchmal starre ich stundenlang in die schwarze Öffnung und suche in der Dunkelheit nach Antworten. Was verbirgt sich in der Finsternis? Schatten und Gräuelgestalten.


Die Erschließung, 13. Tag im Jahr 4024:

Letzte Nacht verfolgte mich ein erneut wirrer Alptraum, in dem ich meinen Gang in die Höhle antrat. Dort fand ich meine Kameraden auf. Man hatte sie an Armen und Beinen an die Wände gespießt. Sie baten mich um meine Hilfe, doch ich war nicht in der Lage sie von ihrem Leiden zu befreien. Sie verdammten und verfluchten mich, ehe ich schweißgebadet erwachte. Es kann so nicht mehr weitergehen. Mein Inneres droht mich zu verzehren. Wenn alle schlafen, werde ich in die Höhle gehen. Ich erhoffe mir, dass das, was auch immer ich dort finde, diese Träume stoppen kann, die mich quälen. Es ist meine einzige Hoffnung auf Erlösung. Ich werde auf alles vorbereitet sein. Meinen Speer aus der Schlacht und mein Tagebuch nehme ich mit mir. Es soll nicht ungeschildert bleiben, welches Ende meine Mitstreiter fanden und was sich in dieser der Höhle befindet. Außerdem habe ich mir einen Beutel zusammengeschnürt, in den ich Wurzelknollen gegeben habe. Wasser werde ich ebenfalls in einer kleinen Menge mit mir führen. Ich weiß, dass Höhlen sehr tief in den Fels führen können. In Enderal habe ich in meinem früheren Leben einige erkundet, die mich teilweise ganze Tage in sich gefangen hielten. Aus Materialien, die ich im Dorf finden konnte, habe ich mir mehrere behelfsmäßige Fackeln gebastelt. Zwei Feuersteine komplettieren meine Ausrüstung, die mir dabei helfen soll, das Geheimnis zu lüften und endlich Klarheit zu schaffen. Sobald der Mond hoch am Himmel steht und Ruhe eingekehrt ist, schleiche ich mich zum Eingang der Höhle. Kkraka weiß nichts von meinem Plan. Ich halte es für besser, sie nicht darüber in Kenntnis zu setzen. Unser letztes Gespräch bezüglich der Höhle hat mir allzu deutlich gemacht, dass die Skaraggs weder etwas darüber preisgaben, was in ihr geschah, noch gerne von ihr sprachen. Den Grund für diese Geheimniskrämerei werde ich herausfinden.


Die Erschließung, 15. Tag im Jahr 4024:

Es ging tief in den Fels hinein. Meine Fackeln konnten mir den Weg durch den Tunnel erhellen. In der Höhle gab es nicht viele Abzweigungen. Die meiste Zeit führte der Weg geradeaus, war aber holprig. Wenige Gabelungen mündeten in Sackgassen oder in Schächte, die zu eng waren, um weiter vordringen zu können. Immer wieder fiel durch kleine Spalten im Fels schwaches Mondlicht ein. Meine Suche nach der Wahrheit trieb mich weiter, bis die Steine glitschiger wurden. Ein Tropfen von Wasser wurde mit der Zeit allgegenwärtig. Am Ende des Weges gab der Felsentunnel eine runde Kammer frei, in deren Decke sich ein großes Loch befand. Mondlicht flutete den Raum. Wurzeln von Pflanzen wucherten über die Öffnung in die Kammer hinein. Ich tastete mich langsam über Stufen, in eine Senke mit einem Boden aus glatten Steinen hinab. In der Mitte der Kammer lag ein runder Altar, der direkt vom Mond bestrahlt wurde. Ich hatte eine ähnliche Opferstätte wie diese erwartet und machte mich darauf gefasst, Blutreste und die letzten Hinterlassenschaften meiner Kameraden zu finden. Doch war dort nichts von Beidem. Der Altar war sauber. Auch ein Geruch von Moder und faulendem Fleisch war nicht auszumachen. Die gesamte Kammer war von einer merkwürdigen Spannung erfüllt. Als läge etwas Eigenartiges in der Luft. Eine Kraft, die nicht natürlichen Ursprungs war. Furcht machte sich in meinen Gliedern breit. Ich nahm mein Herz in beide Hände und erkundete die Opferkammer genauer. Es gab nichts Auffälliges zu entdecken, bis auf Malereien, die sich über die Wände des gesamten Rundes erstreckten. Als ich sie näher betrachtete, stellte ich fest, dass man sie mit einer Art Ölfarbe angefertigt hatte. Die Vorgehensweise war im Gegensatz zu herkömmlichen, primitiven Malereien, die ich der Skaragg-Kultur zuordnete, gänzlich anders. Sie war feiner, durchdringender. Was ich an den Wänden sah, passte nicht zu ihren einfachen Wandmalereien. Die Inhalte der Bilder waren von einer derartigen Grausamkeit und so grotesk, dass ich es nicht in Worte zu fassen vermag. Zutiefst verstörend war es, was ich vorfand. Tiere, die sich mit menschlichen Gegenübern in Fortpflanzungsriten ergaben. Unbeschreiblich brutale Hinrichtungen. Und das war bei weitem nicht alles. Die Malereien gipfelten an der Mitte der Stirnwand in einem großen Gemälde. Ich erinnere mich sehr genau an das Gefühl, das mich überkam. Mein Körper weigerte sich, die Malerei zu betrachten. Er weigerte sich mit Vehemenz, weil er wusste, dass das, was ich sehen würde, mich verändern würde. Ich zwang ihn dazu. In dem Gemälde erkannte ich zwischen den Händen einer Gottheit mit fünf Tierköpfen mehrere Menschen, die ihre Münder leidend zu Schreien geöffnet hatten. Als ich sie in näheren Augenschein nahm, machte ich unter den Gepeinigten das Gesicht eines meiner Kameraden aus. Als hätte jemand es direkt von seinem Schädel gerissen und auf den Fels gedrückt, rief es mich an. Mit wachsendem Entsetzen fand ich weitere Gesichter, die denen meiner verschleppten Begleiter so sehr ähnelten, dass es mir kalt den Rücken hinunterlief. Ich sah Vard, den unausstehlichen Seemann und unseren Anführer Sarek. Alle waren sie da, als hätten sie sich bereits seit Jahrhunderten dort in dem Gemälde befunden. Die Bildnisse versetzten mich in abgrundtiefste Furcht. Schlimmer als in der Schlacht erging es mir in der Höhle. Ich kann nicht erklären, warum sie eine solch grausame Wirkung haben. Doch noch immer beschleicht mich eine Angst, die mich zum Schreien bringt, wenn ich nur daran denke. Ich kann es weder begreifen, noch erklären. Alles was ich weiß ist, dass diese Zeichnungen mich jeder Selbstkontrolle beraubten. Starr vor Furcht wie ich war, zwangen sie mich dazu meinen Speer gegen mich zu erheben. Sie verleiteten mich dazu, meinem Leben ein Ende zu bereiten. Mich zu töten, durch meine eigene Hand. Zu meiner Verwunderung bebte die Speerspitze direkt unter meinem Hals, als es mir gelang, aus der Starre zu entkommen. Kann es sein, dass Malereien einen Menschen dazu treiben können sich umzubringen? Das ist nicht möglich. Es sind nur Bilder, nur einfache Zeichnungen, erschaffen durch eine grausame Hand. Nichts hat sich aufgeklärt. Die Höhle warf mir noch mehr Fragen auf als zuvor und meine Alpträume wurden durch diese Entdeckung nur entsetzlicher.


Die Erschließung, 19. Tag im Jahr 4024:

Mein Zustand verschlimmert sich weiter, seit ich die Höhle verlassen hatte. Manchmal hege ich dieselben selbstmörderischen Gedanken, die mich dort beschlichen haben. Ich kann mich ihnen nur schwer widersetzen. Wenn sich Gegenstände in meiner Nähe befinden, mit denen man sich selbst Schaden zufügen kann, beginnt meine Hand manchmal eigenmächtig danach zu greifen. Dann muss ich sie mit meinem anderen Arm, unter Aufbietung all meiner geistigen und körperlichen Kraft, stoppen, bevor sie Schlimmeres anrichten kann. Es ist, als hätten diese Zeichnungen etwas an mir verändert, ganz wies es mir mein Gefühl in dem Moment gesagt hatte, als ich mich dazu entschlossen hatte, das Gemälde zu betrachten. Mir kommt es vor, wie ein Tor zur Welt der Toten, das jeden, der es gesehen hat, in sein Reich zu holen versucht. Der Zeitpunkt kam, da ich es nicht mehr aushielt. Ich musste Kkraka, meiner einzigen Vertrauensperson, erzählen, was ich getan hatte und was in mir vorging. Ihre Miene gefror vor meinen Augen, als ich ihr sagte, dass ich die Höhle betreten hatte. Sie wurde käsebleich. Danach gebot sie mir, still zu halten und umfasste meinen Kopf mit beiden Händen. Sie sah tief in meine Augen. Die ihren, schimmernd vor Tränen, suchten dabei nach etwas Bestimmtem. In dem gebrochenen Inal, das ich sie gelehrt hatte, erklärte sie mir, dass es Mitgliedern des Stammes verboten war, die Höhle zu betreten. Jeder, der es wagte, war zum Tode verdammt, weil er den Stamm in große Gefahr brachte. Einzig und allein den beiden blinden Männern war es erlaubt. Ich fragte sie, was es mit den Malereien in der Opferkammer auf sich hatte. Sie wurde noch bleicher. Ich hätte die Höhle niemals betreten dürfen, sagte sie und wich vor mir zurück. Nach Kkraka’s Auffassung hatte ich Unheil über uns alle gebracht. Sie verließ die Hütte eilig. Ich weiß nicht, was sie mit ihren Worten meinte, doch bedeuten sie sicher nichts Gutes für mich. Ich werde vorsichtshalber nicht schlafen. Alle spitzen Gegenstände verstecke ich, sodass sie sich nicht mehr in meinem Blickfeld befinden und erwarte dann die nächste Fügung des Schicksals.


Die Erschließung, 27. Tag im Jahr 4024:

Ich musste erfahren, dass Liebe nicht davor schützt, von Menschen verraten zu werden. Kkraka hatte genau das getan. Sie tat es aus dem Glauben heraus, ihren Stamm zu schützen und entschied sich damit gegen mein Leben und unsere Liebe. Unvermittelt kamen die Skaraggs in meine Hütte und zerrten mich grob vor den Thron des Oberhaupts. Der gesamte Stamm brüllte auf mich ein. Steine flogen. Ich sah Kkraka neben dem Oberhaupt. Sie trug meine Verurteilung mit Würde. Eine Kriegerin wie sie zeigte nur selten Schwäche. Die Knochenfrau bespuckte mich mit wüsten Beschimpfungen, von denen ich nur die Hälfte zu deuten wusste. Die Skaraggs schleiften mich zu einem Holzpflock, an dem sie mich festbanden. Dort stand ich, gefesselt und konnte nichts tun, als mich zu winden und meinem schrecklichen Ende direkt ins Auge zu sehen. Noch jetzt, da alles vorüber ist und ich auf den Pflock blicke, kann ich nicht glauben, dass ich diese Situation überlebt habe. Ich starb nicht. Der gütige Malphas verlieh mir bei meiner Geburt die Zähheit einer Katze. Anders denn mit der Tatsache, dass ich mehrere Leben besitze, ist das Geschehene nicht zu erklären. Ich wurde ohnmächtig, just in dem Moment, da das Oberhaupt mir mehrere derbe Hiebe ins Gesicht verpasste, meinen Kopf nach oben zog und ein Knochenmesser an meinen Haaransatz legte. Sie war bereit, meinen Skalp für das Vergehen einzufordern, die verbotene Höhle betreten und dem Stamm geschadet zu haben. Ich weiß jetzt, was Kkraka und sie meinten, wenn sie von Unheil sprachen. Als ich erwachte, kniete ich im Staub. Meine Fesseln waren durchtrennt worden. Mein Körper war steif, als hätte ich einen ganzen Tag in dieser kauernden Position verharrt. Meine Augen wurden erst langsam klarer, ehe sie imstande waren zu sehen, dass alle Skaraggs auf dem Boden lagen – tot. Schwerfällig erhob ich mich und besah mich der unzähligen Leichen. Die Knochenfrau, direkt zu meinen Füßen. Sie hielt die Klinge aus geschärftem Gebein, mit der sie mich hatte töten wollen. Neben ihr lag Kkraka. Ihr Haar war mit Blut verklebt. Sie hatte dem Oberhaupt ihr eigenes Messer in den Rücken gerammt. Sie wiederum war von einem anderen Stammesmitglied ermordet worden. Als hätte die Skaraggs plötzlich eine kollektive Selbstzerstörungswut gepackt, hatten sie sich gegenseitig getötet, ein jeder den, der ihm am nächsten gestanden hatte. Leiche um Leiche betrachtete ich mit leerem Blick. Der Wind fegte dabei über die blutigen Körper. Er war das einzige Geräusch in der Totenstille. Ausgerottet hatten sie sich. Ich sank neben Kkraka auf die Knie und legte ihren Kopf auf meinen Schoß. Doch weinen konnte ich nicht. Nicht einmal meinen Kummer aus mir herausschreien. Nichts war mehr möglich. Eine Woche ist seit dem Unglück vergangen. Ich will nicht versuchen es zu begreifen. Alles würde darauf hinausführen, dass ich es bin, der daran die Schuld trägt, wie auch immer so etwas möglich ist. Vielleicht hatte ich das Grauen, das in dieser Höhle lag, mit meinem Blick nach draußen getragen. Wie durch den schelmischen Willen einer niederträchtigen, übernatürlichen Macht, die es liebt die Menschen leiden zu sehen, hatte sie mich nicht mit dahingerafft. Sie ließ mich leben. Meine Gedanken sind verdreht. Ich kann nicht sprechen, essen oder trinken. Der Schock hat mich unbrauchbar gemacht. Nur während ich schreibe, kann ich meinen Verstand nutzen. Sobald ich das Buch weglege, beginne ich dahinzurotten. Was soll ich nun tun? Ich weiß es nicht.

Die Erschließung, 29. Tag im Jahr 4024:

Ich habe mich dazu entschlossen, Kkraka ordnungsgemäß zu bestatten. Ich bereitete ihr ein Bett aus trockenen Strauchzweigen, legte ihr die schönsten Steine auf die Brust, die ich finden konnte und verbrannte sie anschließend. Meine Tränen verdampften in den Flammen. Dem Rest des Stammes kann ich diese Ehre nicht erweisen. Ich habe nicht genug Kraft, sie auf einen Haufen zu schlichten. Bevor der Hunger oder die Wassernot mich qualvoll umbringen, werde ich die Inseln verlassen. Der Drang mich selbst zu töten verfolgt mich nicht mehr. Es ist die Taubheit, die mich unfähig macht, mein eigener Herr zu sein. Ich weiß, dass die Skaraggs Fischerboote besaßen. Möglicherweise gelingt es mir, eines davon für meine Flucht zu nutzen.


Goldener Mond, 28. Tag im Jahr 4024:

Lange ist es her, seit ich dieses Buch zuletzt geöffnet habe, fast zwei Monate. Ich befinde mich in Sicherheit, in der Obhut einer Flüchtlingssiedlung an der Küste Arktwends. Wie es dazu kam, dass ich hierher gelangte, will ich nun kurz beschreiben: Wie ich in meinem letzten Eintrag bereits geschrieben hatte, war es mein Ziel gewesen den Fängen der Inseln zu entkommen. Ich kämpfte mich bis zur Küste vor. Auf direktem Wege vom Dorf führte ein Pfad unter die felsigen Klippen. Zwischen Gischt und Stein fand ich eine kleine Bucht, die das barg, was ich suchte. Unter größten Mühen schob ich ein kleines Fischerboot der Skaraggs ins Wasser und paddelte damit auf das Meer hinaus. Das kleine Segel fasste wenig Wind und ich kam nur langsam voran. Ich konnte nur hoffen, dass die Strömung mich in einen sicheren Hafen tragen würde. Nach wenigen Stunden war ich so kraftlos, dass ich mich niederlegte und sofort einschlief. Lange ruhte ich. Bis die sanfte Berührung einer Hand auf meiner Wange mich weckte. Ich sah Kkraka, deren schwarzes Haar ihre Haut umspielte und auf meine Wangen fiel – zuerst. Als mein Blick aufklarte, schälte sich das Gesicht einer Frau mit harten Gesichtszügen aus der Wirrnis. Sie betupfte meine Stirn mit einem feuchten Tuch. An den ersten Geruch, den ich vernahm, erinnere ich mich noch genau. Es war der von Trabantiskraut, einem bitteren Gewächs, mit dem sie meine Wunden behandelten. Ich kannte es aus früheren, lang vergangenen Zeiten, als ich die Wälder Enderals durchstreift hatte. Die Strömung hatte mein kleines Boot bis an einen Strand auf dem Kontinent Arktwend getragen. Ich hatte wieder einmal unverschämtes Glück gehabt, dass ich in der Nähe einer Flüchtlingssiedlung angespült worden war, denn wie gemeinhin bekannt ist, sind dieser Tage auf Arktwend nicht sehr viele lebende Seelen zu finden. Vollkommen entkräftet fanden mich die Bewohner der kleinen Siedlung vor. Es waren größtenteils gutmütige Leute. Sie hätten mich auch dort im nassen Sand liegen lassen können, doch das taten sie nicht. Eine Familie erklärte sich bereit, sich um mich zu kümmern. Nach meinem ersten Erwachen konnte ich kaum lang genug sprechen, um ihnen für ihre Hilfe zu danken. Die Worte kamen mir schlicht nicht über meine Lippen. Sie schienen in mir eingeschlossen zu sein. Die Frau namens Karmilla, die sich mit ihrer ältesten Tochter und ihrem Mann Arvil um mich sorgt, redet ganz behutsam mit mir. Ich bemerke, dass sie mir nicht gänzlich vertraut und vorsichtig mehr über mich herauszufinden versucht. Nach und nach gibt sich die innere Leere, die mich erfüllte. Das Jahr in Gesellschaft der Skaraggs hat mich schwer gezeichnet. Vor Allem die letzten Ereignisse sind nicht spurlos an mir vorübergezogen. Aber langsam gewinne ich das Gefühl zurück, wie das Leben wirklich ist und mein Gaumen kann sich sogar wieder einer anderen Speise als Knollenbrei erfreuen. Die Bewohner der Siedlung integrieren mich in ihre tägliche Arbeit. Sie geben mir einfache Aufgaben und laden mich zu gemeinsamen Abendessen ein. Manche Männer begegnen mir mit Misstrauen. Sie löchern mich regelrecht mit Fragen über meine Herkunft. Ich kann es ihnen nicht verdenken. Wenn ein fremder vor meiner Türe angespült worden wäre, hätte ich genau dasselbe getan. Irgendwann muss ich ihnen erzählen, woher ich komme und was mir widerfahren ist. Bisher konnte ich es nicht. Es ist immer noch zu frisch. Das Fundament und der Tag unseres Aufbruches sind inzwischen längst vorübergezogen. Ein ganzes Jahr befinde ich mich nun schon auf dieser Reise. Wenn ich mich an jenen Tag zurückerinnere, wirkt es, als wäre es gestern gewesen, dass meine Kameraden mit mir Seite an Seite die Holzplanke zum Schiffsdeck überschritten.


Erste Ernte, 2. Tag im Jahr 4024:

Ich konnte mich dazu durchringen, den Bewohnern von meiner Geschichte zu erzählen. Einige glaubten mir zunächst nicht, bis sie den Blick des gebrochenen Mannes, meinen Blick, im Schein der Feuerstelle sahen. Dieser Blick war Beweis genug dafür, dass ich ihnen keine Ammenmärchen auftischte. Die übrigen, ewigen Zweifler ließ ich in ihrem Glauben. Ich bezahlte meine Schuld bei Karmilla und Arvil mit harter Arbeit ab. Das ist das Mindeste, was ich für sie tun kann, nach Allem was sie für mich auf sich genommen haben. Bei einem kleinen Fest haben mich die Kinder der Siedlung über die Wilden von den Knocheninseln ausgefragt. Ich erzählte ihnen harmlose Schauergeschichten, die sich weit davon entfernten, wie die Realität der Skaraggs wirklich ausgesehen hatte. Den Kleinen gefiel es. Ich beginne die Welt mit anderen Augen zu sehen und ich glaube auch, dass die Welt mich nun mit anderen Augen sieht. Ich bin stummer geworden und selten entflieht sich mir ein Lachen. Dennoch stehe ich wieder auf eigenen Füßen. Da ich diese fremdartige Welt der Skaragg-Inseln hinter mir gelassen habe, wird mir immer deutlicher bewusst, wo meine Wurzeln liegen. Ich spüre plötzlich, wie sich alte Erinnerungen an die Heimat wieder in meinen Kopf schleichen. Es zieht mich zurück nach Enderal. Wenn ich dies alles überlebt habe, ist es womöglich auch die Bestimmung meines Pfades, dorthin zurückzukehren und meine Entdeckungen kundzutun. Malphas‘ Wille könnte man es nennen. Er schenkte mir mehr Glück als Verstand, um diese, meine Aufgabe zu bewältigen.


Sternensommernacht, 25. Tag im Jahr 4024:

Ein Expeditionsschiff aus Qyra ist im Dorf eingetroffen. Die Kundschafter befanden sich auf der Rückfahrt aus Nehrims nördlicheren Gefilden. Ich führte eine Unterredung mit ihrem Kapitän, dem ich meine Situation schilderte. Er gestattete mir die Mitreise nach Qyra. Weil ich der gleichen Berufung folgte und beteuerte, nicht viel Proviant zu benötigen, verlangte er keine Bezahlung. Ich besaß keine einzige Münze, weshalb ich über diesen Umstand sehr glücklich war. Karmilla und Arvil gaben mir alles an Vorräten mit, was sie entbehren konnten. Ich umarmte sie zum Abschied. Jede Art von Dank ist ungenügend, um das aufzuwiegen, was sie für mich getan haben. Ich stehe für immer in ihrer Schuld. Seit mehreren Wochen bereise ich die Küstenlinie des Kontinents. Mal gehe ich zu Fuß, dann und wann treffe ich auf einen netten Händler, auf dessen Karren ich eine Weile mitfahren kann. Ich entdecke in der Wüstenlandschaft eine ganz eigene Schönheit und verfasse einige Gedichte über markante Punkte. Das hatte ich in meiner Jugend bereits gerne getan, wenn ich über faszinierende Landstriche gestolpert war. Die Zeit hier lässt mich meine Schwermut wenigstens teilweise vergessen. Mit jedem Sonnenaufgang rücke ich der Heimat ein Stück weit näher. Es wird nicht einfach werden, in mein altes Leben zurückzukehren. Wenn ich meiner Gefährtin die Wahrheit erzähle, wird sie mich gewiss verlassen wollen, sollte Malphas mir nicht auch in Sachen Liebe eine zweite Chance bescheren. Ich könnte ihr sagen, dass es nötig war, mich an etwas zu klammern wie die Liebe zu Kkraka und dass ich ohne sie niemals überlebt hätte. Gewiss würde sie das nicht verstehen. Sie würde reagieren, wie jede gestandene Gefährtin auf einen Betrug mit einer anderen Frau reagieren würde und die Unverhältnismäßigkeit der Lage, in der ich mich währenddessen befunden hatte, außer Acht lassen. Ich weiß nicht, ob ich ihr überhaupt noch geben könnte, was sie verdient, ob ich bereit wäre sie zu lieben, als wäre ich nie fort gewesen. Wer weiß, ob sie in den zwei Jahren meiner Abstinenz nicht schon einen neuen Gefährten für ihre Seite gefunden hat. Wie man merkt, halten die Sorgen des gewöhnlichen, kleinen Mannes wieder in mir Einzug, nachdem sie lange, lange nicht mehr vorhanden gewesen waren.


Der Aufbruch, 12. Tag im Jahr 4025:

Dies wird der letzte Eintrag dieses Berichts sein, der ursprünglich unsere Reise dokumentieren sollte. In den Tagen der Gefangenschaft ist er zu meinem treusten Begleiter geworden, der mit mir die größten Gefahren durchlebt hat. Hier konnte ich alle meine Gedanken niederschreiben. Auf diesen Seiten war mein Verstand stets kühl und scharf, auch wenn er abseits des Schreibens zu zerfallen drohte. Mir fällt es nicht leicht, nun ein allerletztes Mal meine Feder auf das Pergament zu setzen. Doch es wird Zeit, das Ende zu besiegeln und diesen Bericht in die Hände unseres Gildenmeisters zu übergeben, damit er veröffentlicht werden kann. Ich wünsche mir keine horrende Entlohnung für das, was wir gefunden haben. Wohlbehalten in Enderal angekommen zu sein, ist für mich mehr als genug der Entlohnung. Was ich mir erhoffe, ist ein Denkmal für meine tapferen Freunde, die ich auf den Skaragg-Inseln zweifelsohne in einer unerklärlichen Tragödie verloren habe. Ich werde ihren Familien berichten, was vorgefallen ist, damit sie nicht in Ungewissheit verbleiben müssen. Ihren Tod erklären kann ich nicht. Er ist verknüpft mit den Wandmalereien, die ich in der Opferkammer der Höhle vorfand. Sollen mich die Leute für verrückt erklären, die es nicht glauben wollen. Ich weiß, was ich sah und leugne kein einziges Wort, das ich niedergeschrieben habe. Malphas höchst selbst soll dabei mein Zeuge sein. Dieser Bericht ist ein gemeinsamer Verdienst. Unsere Entdeckung lebt in ihm auf alle Zeiten fort. Wir waren die Ersten, die den Boden der Knocheninseln im Vergangenen Meer betraten. Mögen die Seelen meiner Kameraden, meiner Freunde ihren Frieden finden, wo auch immer sich gerade befinden.