Enderal:Das Leben des Torgan Wisperzunge, Band 1

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Das Leben des Torgan Wisperzunge, Band 1

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Literatur Das Leben des Torgan Wisperzunge, Band 1
Daten
Gewicht Gewicht
1
Wert Wert
25
Autor
Unbekannt
Bemerkungen
-


Das Leben des Torgan Wisperzunge, Band 1 ist ein Buch in Enderal – Die Trümmer der Ordnung.

Fundorte


Inhalt

Leblos lag der Mann zu meinen Füßen. Das matte Licht des Mondes schimmerte in der tiefroten Pfütze unter ihm, silbrig und gespenstisch.

Eine eigenartige Taubheit befiel mich in dem Moment, da sich die dunklen Nebelschleier plötzlich aus meinem Kopf verzogen hatten. Es glich in Ansätzen der Lähmung, wenn man seiner Herzensmeydame gegenübersteht und sich vor Aufregung nicht mehr rühren kann. Bloß war jene Taubheit, die mich überkam, brutaler, gefräßiger und allesverzehrend.

Ich erinnere mich vage daran, wie mein Blick meinen Arm hinunterwanderte. In meiner Hand hielt ich einen blutigen Stein, von der Größe einer Faust. Reste dessen, was man dem jungen Mann aus dem Schädel geprügelt hatte, klebten daran. Und wieder befiel mich ein Gefühl der Taubheit. In diesem Moment fehlte mir jegliche Erinnerung an das, was direkt zuvor geschehen war. Freilich habe ich diese Erinnerung mittlerweile wiedererlangt, doch suchte ich noch Jahre nach diesem Erlebnis vergeblich nach ihr.

Dieser Mann war tot, mausetot, toter, wie es toter nicht mehr möglich war, ja toter noch als ein Verlorener, wenngleich diese Wesen in ihrem Zustand dennoch wandeln. Niemand sonst fand sich weit und breit in dem Park. Keine Absonderlichkeit, war es doch spät in der Nacht. Das Gewicht des blutigen Steins in meiner Hand schien schwerer und schwerer zu werden, je deutlicher sich eine erschreckende Wahrheit an die Oberfläche meines Bewusstseins grub. Er war bald so schwer, dass es mir unmöglich war, ihn weiter festzuhalten. Ich musste ihn fallen lassen. War es möglich? War ich ein Mörder?

Die Tatsachen ließen keinen anderen Schluss zu und obgleich mein Scharfsinn erheblich durch den Glimmerkappenstaub getrübt war, konnte ich in meinem Delirium dennoch diese gedanklichen Verbindungen knüpfen. Ich, Torgan Wisperzunge, dessen Traum es einst gewesen war, nach den Sternen zu greifen, zu erreichen, was niemand zuvor erreicht hatte, war ein Totschläger. Ich war zu weit gegangen, bis zum Rand der Welt und darüber hinaus, in die finstersten Schluchten und Nischen, die es in Vyn gab. Der Taubheit folgte eine Welle aus schierer Panik, die über mich hinwegbrandete. Sie würden mich verfolgen. Sie würden mich einkerkern oder schlimmer noch – hängen. Das hätte ich mir redlich verdient. Ich konnte nirgendwo hin gehen. Meine Liebe, Maressa, meine Freunde, jeder den ich kannte, hatte sich von mir abgewandt.

Rückblickend muss man meinem damaligen Ich die Verfehlungen verzeihen, die es beging. Lange vor dem Mord hatte ich mich von meinem rechten Pfad abgewandt. Ich hatte versucht, nach den Sternen zu greifen und hatte sie verfehlt, war gefallen. Die Leere, in die ich gefallen war, hing an mir wie ein schwer lastender Schatten. Wenn ein Mann vergisst, wozu er gemacht ist, verliert er den Sinn in seinem Sein. Viel Schlimmeres ist mir widerfahren, und es ist nicht leicht dies zu ergründen, nun, Jahre nachdem ich mich wieder dem einzig wahren und richtigen Pfad zugewandt habe. Meine alten Knochen haben sich von diesen dunklen Zeiten nie erholt, doch konnte ich sie hinter mir lassen, indem ich sie niederschrieb.

Sehet selbst was geschehen ist, mit rechtschaffenem und folgsamem Blick.


Kapitel 1: Auf Kindesbeinen

Vater war ein Mann gewesen, wie es ihn nicht oft auf der Welt gegeben hatte. Für andere Kinder waren Vorbilder große Helden oder Entdecker. Für mich war es mein Vater, mein bester Freund, mein Lehrmeister, eine Hälfte meiner Seele. Er liebte seinen kleinen Jungen mit den feuerroten Haaren, seinen „Funken“. Die Bücher, um die er sich kümmerte, nahmen zuweilen einen größeren Wert in seinem Leben ein als die Liebe zu seiner Frau, meiner Mutter Rochmea. Doch mich vernachlässigte er niemals. Als Bibliothekar gehörte er nicht zu den wohlhabendsten Bürgern Arks, doch wusste er seine Familie zu versorgen und hatte ein kluges Paar sparfreudiger Händchen beisammen. Er lehrte mich die feinen Künste des Lesens und Schreibens, den Begabungen, die einen Kundigen von einem Bauern unterschieden. Sein Faible für die Wissenschaften und die Analytik, die die Magie in all ihren zahlreichen Facetten erforschte, weckte in mir mein Verlangen, diese Bereiche, die vom gemeinen Volk durchaus kritisch beäugt wurden, zu studieren. Bereits als Kind hegte ich den großen Traum, einmal Mitglied des Heiligen Ordens zu werden, ein Mann, der die Geheimnisse der Welt ergründet und dafür geachtet wird. Ich wollte von einem Niemand zu einem Jemand werden.

Welch blanke Ironie des Schicksals traf meinen liebsten Vater. Schlimme Tage kommen und gehen, wenn man lebt. Diesen jedoch sah ich nur einmal kommen, nie aber ging er wieder. Er blieb. Ich, noch nicht einmal an der Schwelle zum achten Lebensjahr, musste miterleben, wie die Bücher, die er hegte und pflegte, zu seinem Verderbnis wurden. In den vergilbten Seiten eines gewichtigen Wälzers, einer Ausgabe, die er einem Händler zum Schnäppchenpreis abgekauft und mir und meiner Mutter stolzen Hauptes präsentiert hatte, hatte sich ein Pilz eingenistet. Wie ein kriechender Parasit befiel er ihn und zehrte meinen Vater von Innen heraus auf. Der Tod durch diese seltene Art von Pilz kommt so schleichend, dass man erst etwas bemerkt, wenn es schon zu spät ist. Meiner Meinung nach ist es eine der schlimmsten Arten zu sterben, bedenke man nur, dass das Gesicht meines verstorbenen Vaters durch ihn bis auf die Knochen zerfasert wurde.

Die Pfadesweihe hatte für mein junges Dasein verheerende und weitreichende Konsequenzen. Wie sehr ich gehofft hatte, Malphas würde mich auf den Pfad der Erhabenen führen, damit wenigstens eine geringe Chance bestand, dem Orden beitreten zu dürfen! Ich betete Tag und Nacht für diese Möglichkeit, legte all meine Hoffnung in die Hände unseres Gottes. Das Schicksal, das er für mich vorsah, war ein gänzlich anderes. Mir wurde derselbe belesene Pfad zugedacht wie meinem Vater. Eine logische Konsequenz, werdet ihr nun denken - ein Sohn beerbt seinen Vater, das wäre nur recht und billig. Für mich war es die größtmögliche Enttäuschung. Sie wurde nur von einem weiteren traumatischen Erlebnis in meiner Kindheit übertroffen, welches nicht ungeschildert bleiben darf, denn unweigerlich nahm mit ihm meine innere Verderbnis ihren Lauf.

Lange krampfte sich in mir alles zusammen, wenn ich an folgende Stunde zurückdachte. Im Alter nimmt die Heftigkeit solcher Erinnerungen stark ab, was darin begründet ist, dass man die Welt mit anderen Augen sieht. Eine bodenlose Frechheit, nichts anderes trug sich an einem späten, kalten Abend der Ankunft zu. Ich und meine Mutter saßen gerade beim Abendbrot, da klopfte es an der Tür unseres Hauses. Wie es mir die Höflichkeit als, wenn auch kleinem, Mann des Hauses gebot, stand ich auf und öffnete die Tür. Eine hagere, große Gestalt mit rotem Gewand stand vor mir. Es handelte sich dabei um Jagar Siebenstreich, seines Pfades Priester in dem Tempel, den ich und meine Familie stets besuchten. Der Vater der Schaffenden und Schwachen wurde er auch genannt, weil er sich besonders um die Belange derer kümmerte, die es am Dringendsten benötigten. Mir schien es stets, als trüge er auf seinem Gesicht, über das sich die Haut eng spannte wie über einen Totenkopf, eine Maske, unter der er sein wahres Aussehen vor den Menschen verbarg. Jagar Siebenstreich genoss ein hohes Ansehen in ganz Ark und speziell in unserem Viertel. Er hatte meine Mutter bei der Trauer um den verstorbenen Ehemann unterstützt. Trotz all dieser Argumente, die für seinen guten Willen sprachen, hatte ich ihn nie gemocht. Es gibt nur wenige Sätze, die er gesprochen hatte, an die ich mich klar und deutlich erinnern kann. Der erste war seine Begrüßung:

»Na Torgan, du kleiner Funken, lässt du mich herein, damit mein gebrechlicher Leib nicht weiter in der Winterkälte zittern muss?«, hatte er mich gebeugter Haltung und übertriebener Freundlichkeit gefragt.

Ich hätte am liebsten die Tür geschlossen, doch meine Mutter bat den barmherzigen Pater in unser Haus und schalt mich noch dazu für mein Zögern mit einem heftigen Klaps. Der Priester leistete uns beim Abendbrot Gesellschaft. Ich hörte seiner spitzen Zunge kaum zu, doch glaubte ich hinter seinen schmalen Augen etwas Furchteinflößendes zu sehen, während er mit meiner Mutter sprach. Eine versteckte und funkelnde Gier. Unter dem Vorwand, er wolle sich nach unserem Wohlbefinden erkundigen, weil ihm unsere Familie besonders am Herzen liege, war bei meiner Mutter schnell alles Misstrauen und alle Vorsicht vergessen. Während des Essens lenkte der Mann das Gespräch auf meinen Vater. Meine Mutter hielt mich stets aus allem, was den verstorbenen Gefährten betraf, heraus, weswegen sie mich dezent und gleichzeitig bestimmt aus dem Zimmer schickte. Ich hatte nicht umsonst feuerrotes Haar von der Farbe eines Spitzbuben, wie der Volksmund zu sagen pflegte. Ich beobachtete das Gespräch weiter durch den dünnen Türspalt, vom dunklen Flur aus.

Eine ganze Weile spielte der Mann mit verdeckten Karten, wie ich fand. Als meine Mutter ihm eine weitere Kelle voll des Eintopfes ausschöpfen wollte, geschah es. Mit klopfendem Herzen sah ich, dass der Pater sich von seinem Stuhl erhob und hinter meine Mutter stellte. Unheil war im Verzug. Sie erschrak, als sie sich umwandte und er ihr näher war, als es ihr lieb war. Sie reichte ihm die Schale. Er stellte sie jedoch sogleich dampfend auf dem Tisch ab.

»Ihr seid eine wunderschöne Meydame. Warum sucht ihr euch nicht einen neuen Mann für eure Seite? Ich bin mir sicher, ein jeder Herr wäre entzückt, sich an ihr zu wissen.«, so in etwa hatte er sein Verlangen nach meiner Mutter ausgedrückt.

Er versuchte ihr Gesicht zu streicheln, aber sie wich vor seinen Annäherungsversuchen zurück. Und urplötzlich wurde aus einem fehlgeschlagenen Vorstoß des Paters Ernst. Mit seiner knochigen Hand holte er aus und schlug sie zu Boden. Das Tier, seine wahre Gestalt offenbarte sich. Er legte seine Maske ab. Ich sah mit an, wie er sich über sie beugte, während sie sich die Wange hielt, wie er sie niederdrückte und mit seinen faltigen, alten Händen ihr Kleid anhob. Mit groben Handgriffen zwang er ihr seinen Willen auf. In seinen alten Knochen steckte mehr Kraft, als man ihm zutrauen mochte. Meine Mutter schrie, konnte sich jedoch nicht befreien. Es gibt zahlreiche Geschichten, die von jungen Helden erzählten, die in einem ähnlichen Alter und einer ähnlichen Situation auf den Mann losgestürmt wären und diesen an seinem Vorhaben gehindert hätten. Ich hatte zu viel Angst. Die Feigheit ist eine Eigenschaft an mir, die immer dann zum Tragen kam, wenn Situationen sie am Wenigsten begünstigen. Durch den schmalen Türspalt beobachtete ich, wie sich die Robe des Paters lüftete. Meine Augenlider fielen fast von alleine zu, als wolle mein Körper verhindern, dass meine Seele mit den folgenden Bildern geschändet wurde. Dennoch hörte ich jedes lustvolle Grunzen des Priesters und jedes schmerzgetriebene Ächzen meiner Mutter. Mitten in seinem Treiben hielt er nach einer Weile inne. Ich bemerkte dies nur durch eine Veränderung der Geräuschkulisse.

Ich dachte, der Alptraum hätte endlich ein Ende genommen, und linste durch meine halb geschlossenen Augen. Gänsehaut überkam meinen ganzen Körper. Das totenkopfartige Gesicht von Jagar Siebenstreich blickte über mir durch den Türspalt. Er sah mich von oben herab an, den kauernden Jungen, dessen Mutter er gerade vergewaltigt hatte. Seiner Fratze entfloh ein schiefes Grinsen.

»Folge schön artig weiter deinem Pfad mein Junge, dann wird Malphas dir gewogen sein.«, sagte er und schloss die Tür.

Er ließ mich in der Finsternis des Treppenflurs zurück. Sein Gesicht brannte sich in meinen Kopf ein und hinterließ dort tiefgreifende Spuren. Bis heute sehe ich diesen Ketzer klarer als meinen Vater noch vor mir, diesen Lügner, diesen Verräter des gütigen Malphas. Brennen sollte er im Sonnenfeuer für seine Taten, denn gewiss war es nicht die erste Frau, die er auf diese Weise ausgenutzt hatte. Meine Mutter sprach nie ein Wort über das Geschehene. Sie ertrug den Schmerz in Stille. Einen Priester, und dazu einen mit einem derart tadellosen Ruf wie Jagar Siebenstreich, konnte man nicht belangen, es sei denn, man wandelte auf einem hohen Pfad und hatte mächtigen Einfluss auf den Klerus. Sie schwieg still. Während sie das tat, begann ein Feuer in mir zu brennen. Es war nur eine kleine Flamme, ein Funken, welcher der Glut entsprang, die durch meine Pfadesweihe und die Schandtat von einem Gesandten des großen Malphas gelegt wurde. Nur einen Windhauch oder ein schwaches Pusten hätte es bedürft, um sie zu löschen. Doch sie war entzündet und sollte mein fortwährendes Leben bestimmen. Die Flamme, welche die Ketten des eingekerkerten Willens zu schmelzen wusste.

Die Flamme der Freiheit.