Enderal:Der Schlächter von Ark, Buch 3: Erste Schritte: Unterschied zwischen den Versionen

Aus Sureai
Wechseln zu: Navigation, Suche
K (Holomay verschob Seite Der Schlächter von Ark, Buch 3: Erste Schritte nach Enderal:Der Schlächter von Ark, Buch 3: Erste Schritte ohne dabei eine Weiterleitung anzulegen: korrekter Namensraum)
Zeile 1: Zeile 1:
{{Breadcrumb|[[Enderal:Gegenstände|Gegenstände]] < [[Enderal:Bücher|Bücher]]}}
+
{{Breadcrumb|[[Enderal:Literatur|Literatur]] < [[Enderal:Bücher|Bücher]]}}
  
 
{| cellspacing="8" cellpadding="0" class="hintergrundfarbe1 rahmenfarbe2" style="clear:both; margin:0.5em auto; position:relative;" width="60%"
 
{| cellspacing="8" cellpadding="0" class="hintergrundfarbe1 rahmenfarbe2" style="clear:both; margin:0.5em auto; position:relative;" width="60%"
Zeile 61: Zeile 61:
 
|}
 
|}
  
[[Category:Enderal-Bücher]]
 
 
[[Kategorie:Bücher]]
 
[[Kategorie:Bücher]]
[[Category:Literatur]]
+
[[Kategorie:Enderal-Bücher]]
 +
[[Kategorie:Literatur]]
 +
[[Kategorie:Enderal-Literatur]]

Version vom 9. März 2017, 14:08 Uhr

< Enderal < Literatur < Bücher


Kapitel 3: Erste Schritte

Die ersten Tage meiner Wanderschaft waren ein beinahe spirituelles Erlebnis, wenngleich kein durchweg schönes. Ich fühlte mich, als hätte ich mein gesamtes vergangenes Leben mit einem grauen Schleier vor den Augen gelebt, und je mehr ich mich von der kahlen Klippe entfernte, desto surrealer erschien mir der Gedanke, dass ich dort ganze achtundzwanzig Jahre gelebt haben sollte … als Priester. Es erschien mir fast, als wäre all das nur ein Traum gewesen.

Aber wer war ich nun?

Ich vermochte mir selbst keine zufriedenstellende Antwort darauf zu geben. In den Augen des heiligen Ordens würde ich, sofern ich nicht augenblicklich kehrt machte und meine törichte Reise beendete, über kurz oder lang ein Ketzer werden, ein Wegeloser, der seinen Pfad verlassen hatte. Dabei spielte die Tatsache, dass ich eigentlich selbst Teil des Klerus war, nur eine untergeordnete Rolle. Zweifel und Bitterkeit durchschnitten mein Befreiungsgefühl wie ein geistiges Schwert, wenn meine Gedanken auf Malphas und seine 101 Verse fielen. Aber gleichermaßen verhielt es sich, wenn ich an eine Rückkehr dachte. Das flaue Gefühl in meinem Magen nistete geradezu lauernd in mir, und als ich am zweiten Tag meiner Reise einmal ein paar Schritte in Richtung Nebelhaim zurück gegangen war, erfasste mich die gleiche grauenvolle Panik, die mich in meiner Priesterkammer zum Zusammenbruch gebracht hatte. Nein … Der einzige Weg, den ich jetzt noch beschreiten konnte, war der, der über die verdrängten Erinnerungen lief, fort von meinem falschen Leben. Wo genau ich meine Suche nach den verlorenen gegangenen Fragmenten meiner Kindheit beginnen sollte, wusste ich nicht im Ansatz. Als Gilmon mich gefunden hatte, war ich gerade mal zwei Jahre alt gewesen. Was konnte passiert sein, das mich derart geprägt hatte? Ich hatte nur einen Anhaltspunkt, um Antworten zu finden, nämlich die ominösen Worte der verschleierten Frau, und obgleich mir diesen zu vertrauen so irrational und albern erschien wie sich die Zukunft von qyranischen Knochenlesern vorhersagen zu lassen, blieb mir nichts anderes übrig.

Folge dem Feuer …

Ich hielt einen Moment inne und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Ich hatte einen kleinen Küstenpfad eingeschlagen, als ich die Nebelhaimer Klippe heruntergestiegen war, und befand mich nun an der Grenze des Herzlandes. Bis nach Ark waren es von hier noch gut elf Tagesmärsche, aber ich beabsichtigte, von meinen letzten Groschen einen Myradenflug in die Hauptstadt zu bezahlen. Zu gefährlich waren die dicht bewachsenen Straßen durch die endraläischen Wälder. Derzeit befand ich mich auf einem halbwegs befestigten Wanderweg inmitten zweiter bunt bewachsener Wildwiesen. Vogelgezwitscher erfüllte die Luft, und die Sonne brannte mir in den Nacken. Du bist verrückt, Jaél … einfach verrückt, dachte ich, als ich einen Blick zurück warf. Ja, was ich tat, widersprach wirklich allem, was mir die heiligen Verse gelehrt hatten. Noch vor rund sieben Mondwenden hatte ich selbst eine kleine Gruppe pfadesreifer Knaben und Mädchen durch ihre Weihe begleitet. Ich erinnerte mich, wie ein kluges, rothaariges Aeternamädchen bei einer der Vorbereitungsstunden das Wort an mich gerichtet hatte. Ihre Haare waren fein und glatt gewesen, wie bei allen ihrer spitzohrigen Rasse. „Was, wenn ich keine Schneiderin werden will?“, hatte sie mich gefragt, nachdem ich ihr und fünf anderen Kindern die Bedeutsamkeit der Zeremonie erklärt hatte, die sie zu ihrem nächsten Namenstag erwarten würde.

„Wie heißt du denn, junges Mädchen?“, hatte ich daraufhin lächelnd erwidert.

Der entschlossene Blick war nicht aus den Augen des Mädchens gewichen. „Syléna, Pater. Ich heiße Syléna.“

„Syléna … In Ordnung. Lass mich dir ein kleines Rätsel geben. Oder nein, besser gesagt, lasst mich euch allen ein kleines Rätsel geben.“ Sie hatte ihren Augenbrauen gefurcht und mich skeptisch beäugt, mehr erwachsene Frau als junges Mädchen. „Stellt euch vor, ihr seid allesamt tapfere Entdecker und Entdeckerinnen. Eure heilige Mission, veranlasst vom heiligen Ordensführer selbst, ist es, ein neues Land fernab der Skaragg-Inseln zu erschließen … Wie die ersten Pioniere es damals hier in Enderal taten.“ Der teils hilflose, teils gelangweilte Ausdruck in den Gesichtern der Kinder war der Neugierde gewichen, nur Syléna blickte mich nach wie vor entschlossen und skeptisch an. „Allerdings“, hatte ich mit betonter Stimme gesagt und dabei meinen Zeigefinger gehoben. „ereilt euch alle ein großes Unglück.“ Ich hatte eine bedeutungsschwere Pause eingelegt.

„Ein Gewittersturm. Ihr seid erst auf halber Strecke, da verschlingt ein tosendes Unwetter eure Galeere. Zwar habt ihr Glück, da wie durch ein göttliches Wunder niemand von euch zu Schaden gekommen ist, aber ihr alle findet euch auf einer wilden, unbesiedelten Insel wieder, um euch herum nichts als Dickichte, kalter Sand und Wrackteile.“ Bis auf Syléna hatte ich sie zu diesem Zeitpunkt meiner Erzählung allesamt in den Bann gezogen.

„Euch wird allen sofort klar: Wenn ihr überleben wollt, dann müsst ihr handeln. Und zwar sofort. Denn nicht nur die klirrende Kälte und euer Hunger könnten euch zum Verhängnis werden, nein … Aus der Ferne hört ihr ein bedrohliches Knurren, wie es nur von wilden Vatyren stammen kann.“ Einige der Kinder hatten bei der Erwähnung jener scheußlichen, ziegenartigen Kreaturen, die eigentlich hauptsächlich in dunklen, feuchten Höhlen und Ruinen heimisch waren, angeekelte „Ahh“- und „Igitt“-Laute von sich gegeben. „Ihr beginnt also, Holz zu sammeln und ein Lager zu errichten. Aber schon bald begreift ihr, dass einige von euch besser für gewisse Aufgaben geeignet sind als andere. Ralof etwa kann durch seinen kräftigen Körperbau doppelt so viel Holz tragen wie zum Beispiel Syléna. Oder du, Gilma, du bist eine begnadete Schützin, da dein Vater dich schon früh an den Strohpuppen im Gardehaus hat üben lassen. Wer sollte also die erste Wacht übernehmen, und wer sollte Feuerholz sammeln gehen?“ Ralof sollte das Holz schleppen und Gilma die Wacht übernehmen, darüber waren sich die Kinder einig gewesen. Das Spiel war weitergegangen, bis allen „Pionieren“ ihren körperlichen und geistigen Voraussetzungen gemäß Aufgaben zugeteilt worden waren. „Gut. Aber nun geschieht etwas Ärgerliches: Ralof fühlt sich ausgenutzt und will kein Feuerholz mehr sammeln gehen.“ Der Junge, der angesprochen war, warf mir einen empörten Blick zu, den ich mit einer Handbewegung beschwichtigte. „Natürlich nur in dieser Geschichte. Auf jeden Fall will er kein Holz mehr sammeln gehen. Er sagt, er möchte nun mit Gilma Wache stehen, obwohl alle von euch wissen, dass er mit einem Bogen nicht einmal einen blinden, gelähmten Troll treffen könnte. Hier also meine Frage an euch: Was wäre besser für euch alle? Wenn Ralof sich seiner selbst besinnt, oder wenn er fortan Wache steht, und stattdessen Gilma Holz sammeln geht?“ Natürlich das Erstere, wie die Kinder einmütig bekräftigt hatten.

„Richtig. Denn nur so werdet ihr auf der lebensfeindlichen Insel Vatyren, Hunger und Kälte trotzen können, bis die Rettungsgaleere erscheint und euch zurück nach Enderal bringt. Und das ist die Essenz dessen, was uns die Heilige Schrift lehrt: Nur in einer Gemeinschaft, die dem Wohle aller und nicht der Eigenbrötlerei des Einzelnen folgt, kann Einheit und Stärke entstehen. Und Malphas höchstpersönlich erwählt unsere göttlichen Aufgaben für uns, denn wer sollte unsere Stärken und Schwächen besser kennen als derjenige, der unseren Müttern jeden Mond aufs Neue das Geschenk gibt, Leibesfrüchte gedeihen zu lassen?“ Mit einem zufriedenen Lächeln war mein Blick wieder zurück zur ursprünglichen Fragestellerin gewandert.

„Und das, liebe Syléna, ist die Antwort auf deine Frage. Selbst wenn dir Zweifel an dem Pfad, den Malphas bald für dich wählen wird, aufkommen, so trotze ihnen, wie du einer Krankheit trotzt. Denn nur ein in Fleisch und Geist geeintes Volk kann die Ewigkeit überdauern.“ Die Antwort der Kinder war andächtige Stille gewesen. Syléna allerdings hatte ihren argwöhnischen Blick durch meine – von dem ersten Vers des Pfades inspirierte – Geschichte nicht verloren.

Der Pfad … Hatte ich jemals wirklich daran geglaubt? Ich weiß es nicht. Es war das, was mir Mater Pylea beigebracht hatte. Es war das, was ich zu glauben hatte. Wenn selbst ich, ein gebildeter Mann mit Zugang zu so viel geballtem Wissen, die verwesten Erinnerungen meiner Kindheit erst nach einer Vision entdeckt hat … was ist mit anderen Menschen? Leben sie alle ein … falsches Leben? Aber, schoss es mir da plötzlich durch den Kopf, wenn der Pfad tatsächlich eine Lüge ist … was … was führt uns dann? Welcher Ordnung unterliegt dieses Leben dann überhaupt? Dieser ketzerische Gedanke sollte mich bis zum Sonnenuntergang beschäftigt halten.

Erst als die Sonne schon fast vollends am Horizont versunken war, sah ich auf dem Wanderpfad wieder Spuren menschlichen Lebens. Wie schon die vorangegangenen vier Tage war ich auch heute den ganzen Tag unter Pinien und Zypressenbäumen entlanggewandert und war keiner einzigen Menschenseele begegnet, was mich zutiefst verwundert hatte. Nun aber erstreckte sich vor mir ein gigantisches Weizenfeld, in dessen Mitte eine turmhohe Windmühle thronte. Ihr Rad drehte sich gemütlich im abendlichen Wind, und ein Geruchsgemisch aus staubiger Erde, Moos und frisch gesicheltem Gras lag in der Luft. Für einen Augenblick ließ mich die rustikale Schönheit, die dieser Anblick verströmte, meine schmerzenden Beine und das flaue Gefühl in meinem Magen vergessen. Menschen.

Trotz meiner Erschöpfung beschleunigte ich meinen Schritt und gelangte schon bald auf eine befestigte Straße, die sich zwischen den Weizenhügeln hindurchschlängelte. Und es dauerte nicht lange, bis ich das sah, was ich gesucht hatte: Eine Herberge. Die Nacht war nun vollends hereingebrochen, und das orangefarbene Licht, das aus den Fenstern des alten, efeubewachsenen Bauernhauses strahlte, versprach Geborgenheit und Rast. Ein Lächeln machte sich auf meinen Lippen breit, und ohne es zu bemerken, seufzte ich erleichtert. Die letzten Nächte hatte ich immer in kleinen Kavernen Lager gemacht, und mein Rücken, der an mein gemütliches Bett gewöhnt war, hatte mir jeden Morgen erneut sein Missfallen kundgetan. Eine warme Mahlzeit … Plötzlich preschten zwei Pferde im vollen Galopp an mir vorbei. Reflexartig sprang ich zur Seite, und nur knapp verfehlte mich eine Pferdeflanke. Ich stieß einen erschrockenen Schrei aus und stolperte, als ich versuchte, das Gleichgewicht wieder zu erlangen. Mit einem dumpfen Aufschlag landete ich im Staub. Was zum Henker?! Empört sah ich den beiden Reitern hinterher, die einige Armweiten von mir entfernt zum Stillstand kamen. Es handelte sich um zwei Hünen in solider Lederkleidung, so wie die von Jägern. Ihre Rösser waren schwarz, was auf eine teure Gattung schließen ließ. Wütend beobachtete ich, wie die beiden Reiter von ihren Pferden stiegen, einem schlanken Knaben – der vermutlich der Stallbursche war – einen Groschen zuschnippten und im Inneren der Taverne verschwanden. Wenn ich etwas schon damals hasste, dann waren es selbstgefällige, grobe Menschen. Hatten diese beiden Affen überhaupt gemerkt, dass sie mich beinahe über den Haufen geritten hatten? Vermutlich nicht. Und wenn sie es getan hätten, hätten sie dir trotzdem keinen müden Blick zugeworfen. Ich zog meine Lippen zu einem Strich zusammen. Verdammte Primitivlinge.

Doch mein Geist war zu erschöpft, um der Wut weiterhin Platz in meinen Gedanken einzuräumen. Also zuckte ich resigniert mit den Schultern, hob meinen Stab vom Boden auf und überwand die letzten Schritte zu dem Bauernhaus. Ein geradezu überwältigender Duft nach frisch gebackenem Brot entfaltete sich in der Luft, und mein Ärger war wie verraucht. Ich warf einen kurzen Blick auf das im Wind wackelnde Tavernenschild, das vor dem Eingang hing. Zum Roten Ochsen. Hier würde ich also die erste „zivilisierte“ Nacht meines neuen Lebens verbringen.

Als ich die Gaststätte betrat, schlug mir ein angenehmes Klanggemisch aus Stimmen, klirrenden Kelchen und prasselndem Feuer entgegen. Augenblicklich spürte ich, wie die Kälte aus meinen Gliedern wich und mir das Wasser im Mund zusammenlief. Ich war hungrig, da ich trotz des langen Marsches außer einem Kanten meines Brots und ein paar Handvoll Flüsterkraut nichts zu mir genommen hatte. Die Taverne war sehr gut besucht, was für mich die Leere auf den Straßen und vor den Häusern erklärte. Ich vermutete, dass sie eine Art Dreh- und Angelpunkt für die Bauern der Region war. Der Schankraum selbst bot ungefähr dreißig Seelen Platz, und beinahe alle Stühle, Hocker und Bänke waren besetzt. Beleuchtet wurde er von an den Wänden angebrachten Fackeln, deren Flammenspiel die anwesenden Gäste in tanzenden Schatten an die Wand bannte. Eilig ordnete ich meine Wanderrobe und wand mich zwischen den Tischen hindurch zur Schenke. Ich warf einen musternden Blick auf die anderen Gäste. Unmittelbar neben dem Eingang saß ein müde aussehender Mann und studierte eingehend ein vergilbtes Bilderheftchen namens „Das heitere Aeternafräulein“, das sich seinen schlüpfrigen Zeichnungen nach zu urteilen nicht ausschließlich an Ethnologen richtete. Ein bärtiger Barde stimmte gerade auf einem beinahe beschämend kleinen Podest seine Laute, vermutlich, um in einigen wenigen Momenten ein weiteres Lied in der lärmenden Klangkulisse untergehen zu lassen. Unmittelbar vor mir saß außerdem ein beneidenswert gut aussehender, fein gekleideter Mann, der sich gerade mit einer Frau unterhielt, die ihm ihrer Mimik nach zu urteilen hoffnungslos verfallen war. Ich schätze ihn auf fünfunddreißig Winter. Er hatte pechschwarzes Haar, ein männliches, aber dennoch feines Gesicht und einen Dreitagebart. Unwillentlich verzog ich den Mund. Mit Sicherheit einer dieser oberstädtischen Schnösel, die sich mit ihrem Erbe durch die Welt vögeln. Kaum hatte ich fertig gedacht, bemerkte der Schönling mein Starren. Er sah mich für einen Augenblick mit funkelnden Augen an und lächelte, gewinnend und selbstverliebt zugleich. Dann wandte er sich wieder seiner Bewunderin zu. Die restlichen Gäste waren Reisende und Bauern aller Art, Mann und Weib, Jung und Alt, Groß und Klein. Ich fühlte ich mich deplatziert, wie ein Nordmann auf einem qyranischen Basar, fremd und unwohl inmitten all der rauen Gestalten, zu denen ich zweifelsohne nicht gehörte.

Hastig schritt ich zum Tresen, der sich unter einem niedriger gelassenen Teil der Decke befand und hinter dem Fässer und Schnäpse aller Art auf Regalen aufgereiht waren. Ich wollte gerade zum Wort ansetzen, da fielen mir die beiden klobigen Gestalten auf den hüfthohen Tresenhockern auf. Die beiden Affen. Erstmals hatte ich Zeit, sie mir genauer anzusehen. Einer der beiden trug einen Vollbart und zwei seltsame Ohrringe, die ihm das Aussehen eines Freibeuters verliehen. Sein Kumpane war zwar nicht bebartet, aber er hatte ebenfalls ein Kinn, das dazu geschaffen schien, Nordwindsteinmauern damit zu zerschmettern. Einen Moment lang überkam mich das Verlangen, den vor mir stehenden Bierkrug zu packen und den Männern ins Gesicht zu schütten, das allerdings in dem Augenblick verschwand, als die beiden meine Anwesenheit bemerkten. Unwillkürlich zog ich den Kopf ein, als sie mir einen amüsierten Blick zuwarfen und sich wieder ihrem Fleischeintopf zuwandten. Sie haben mich nicht einmal erkannt. Mit einem kaum merklichen Kopfnicken signalisierte ich der Schankmagd, die hinter dem Tresen stand und Krüge säuberte, zu kommen. Sie trat herbei, musterte mich von Kopf bis Fuß und warf mir einen belustigten Blick zu. „Matris? Was darf ich Euch bringen?“, sagte sie mit rauer Stimme. Wenigstens hat sie den Anstand, mich wie einen städtischen Mann anzusprechen. Ich bemühte mich, mir nichts von meinem inneren Aufruhr anmerken zu lassen.

„Ein Glas Ziegenmilch bitte.“

Ich hatte versucht, selbstbewusst und männlich zu sprechen, aber meine Stimme war von dem viertägigen Schweigen rau und ungeübt und erklang deshalb als bemitleidenswertes Krächzen. Und hätte ich nach den Kronjuwelen der Goldenen Königin gefragt, hätten die Reaktionen nicht heftiger ausfallen können. Während die Schankmagd nur amüsiert lächelte und bedauernd den Kopf schüttelte, brachen die beiden grobschlächtigen Männer neben mir in schallendes Gelächter aus. „Ziegenmilch“, röhrte der eine und klopfte dabei seinem Kameraden mehrfach auf die Schulter. „Er will ein Glas Ziegenmilch!“ Ich starrte den Hünen mit einer Mischung aus Irritation und Trotz an. Vermutlich hätte ich die weiteren Geschehnisse des Abends vermeiden können, wenn ich in diesem Moment nicht zu einer Erwiderung angesetzt hätte. Obgleich in meinem Kopf zahlreiche, schlagfertige Antworten herumgeisterten, war jene, die ich den beiden Männern mit vor der Brust verschränkten Armen schließlich gab, kümmerlich.

„Ja, Ziegenmilch“, sagte ich mit bebender Stimme. „Habt Ihr ein Problem damit?“ Dies schien bei den beiden Affenmenschen für noch größere Erheiterung zu sorgen. Diesmal lachten sie so laut, das selbst der bärtige Barde sein Lautenspiel einstellte und mit einem halb-beleidigten, halb-neugierigen Blick wie einige andere Gäste auch seinen Blick gen Tresen richtete. Nachdem sie fertig gelacht hatten und sich dabei immer wieder bestätigend auf die breiten Schultern geklopft hatten, richtete der Freibeuter das Wort an mich. Seine Stimme glomm förmlich vor Spott und Erheiterung. „Aber woher denn, Matris?“, sagte er mit einer mitleidsvollen Miene. „Es ist nur … Die Ziegenmilch ist leider heute Abend aus.“ Er pausierte kurz, grinsend. „Aber vielleicht probiert Ihr es mal bei der Dirnenschenke im Arker Badehaus.“ Diesmal barsten die beiden förmlich vor Lachen über ihre eigene Witzelei. Ich spürte, wie glühende Wut in mir aufstieg. Nie war mir seit der Aufnahme meines Priesteramtes mit derlei Respektlosigkeit begegnet worden. Nie! „Werde ich tun, wenn ich euch beide dort das nächste Mal im Affengehege besuche“.

Ich erstarrte. Die schnippische Erwiderung war meinen Lippen schneller entsprungen, als ich sie überhaupt gedacht hatte, und ich meinte zu spüren, wie die heitere Stimmung um die beiden Grobiane plötzlich gefror. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass gut die Hälfte der anwesenden Kneipengäste dem Geschehen nun mit erwartender Aufmerksamkeit folgte. Du verdammter Idiot. Du verdammter, elender Idiot! Für einen Moment verengten sich die Augen des Freibeuters zu einem Schlitz, was ihm sein Kumpane gleichtat. Dann löste sich der sichtliche Zorn aus ihren Zügen und wurde durch einen Gesichtsausdruck ersetzt, der sich am besten als wütende Streitlustigkeit beschreiben lässt.

„Soso“, begann er schließlich, und diesmal klang seine Stimme eindeutig boshaft. „Ihr seid also einer der ganz harten Sorte.“ Ich wollte einen Schritt zurückweichen, aber der Freibeuter hatte mich bereits mit seiner kräftigen Rechten am Handgelenk gepackt. Sein Griff war hart und fest, seine Finger rau und voller Schwielen. Nun spürte ich, wie mir kalter Angstschweiß aus den Poren brach. Der Mann war primitiv, aber gefährlich, und das wurde mir augenblicklich klar. Ich versuchte mich halbherzig aus seinem Griff zu entwinden, eine Zuckung, denen die beiden Männer nicht einmal einen Deut Aufmerksamkeit zollten. „Es … es tut mir Leid“, stammelte ich hilflos. Ich konnte meinen Satz kaum beenden, da hatte der Gorilla schon seine Pranke auf meinen Mund gepresst. „Aber das muss es doch nicht, mein Freund.“ Er warf seinem Kumpanen kurz einen vielsagenden Blick zu, dessen Grinsen sich in Reaktion darauf nur noch vergrößerte. „Ich mag Menschen mit Mut. Aber leider scheint ihr ja sehr entkräftet von Eurer langen Reise zu sein.“ Ich bemerkte, wie der andere Mann ihm etwas auf dem Tresen hinschob. „Wie wäre es also mit einer kleinen Stärkung?“

Mit dem letzten Wort nahm er seine Hand von meinem Mund, packte mit einer ruckartigen Bewegung die Schüssel und schüttete mir ihren Inhalt über den Kopf. Es war ein Eintopf, und hätte ich das Pech gehabt, jene unglückselige Bemerkung ein paar Minuten früher zu machen, hätte mir die Brühe vermutlich die Haut verbrüht. Nichtsdestotrotz ergoss sich ein Schwall heißen, klebrigen Schleimes über meinen Kopf. Ich schnappte schockiert nach Luft, woraufhin mir etwas von der Brühe in meine Luftröhre gelangte. Keuchend brach ich zusammen und hustete die Flüssigkeit aus meinem Mund. Der fleischige Sud rann mir aus den Haaren auf den Boden, und ich spürte, wie einiges davon seinen Weg in meine Gewandung gefunden hatte und an meiner Wirbelsäule entlang krabbelte. Ich hörte, wie um mich herum röhrendes Gelächter ausbrach. Der Großteil dessen, daran bestand kein Zweifel, entstammte dem Freibeuter und seinem Kumpanen, aber es waren auch einige derer darunter, die schon vorhin das Gespräch mit Interesse verfolgt hatten. Ich spürte, wie sich mein Magen verkrampfte und mir die Scham in den Kopf stieg. Da lag ich, zusammengebrochen und Fleischbrühe hustend, das Gespött aller. Ich verspürte den heftigen Impuls, aufzuspringen und dem Freibeuter an die Kehle zu gehen, aber meiner Ratio sei Dank verwarf ich den Gedanken so schnell wieder, wie er gekommen war. Ich war zu Tode gekränkt, gedemütigt, aber hatte keinen Todeswunsch. Also bemühte ich mich, mich möglichst kontrolliert und würdevoll aufzurichten und klopfte mir die Fleischstückchen vom Gewand. Ja, meine Gelassenheit und Indifferenz allein würde den Grobianen Lektion genug sein. Ich nahm all meinen priesterlichen Mut zusammen und drehte mich zu den beiden Männern um. Sie sahen mich amüsiert und herausfordernd an. Sie wollen, dass ich mich weiterhin aufmüpfig zeige, schoss es mir durch den Kopf. Sie wollen, dass ich sie weiter provoziere. Gegen keinen der beiden hätte ich im Nahkampf auch nur den Hauch einer Chance gehabt, so viel war mir klar. Und überhaupt hatte ich von Prügeleien ungefähr so viel Ahnung wie ein Troll von Haarpflege. Geh einfach, Jaél. Geh und schluck deinen gottverdammten Stolz runter. Ich schielte in die Menge hinein. Die meisten der Gäste hatten sich bereits wieder ihren Gesprächen oder Mahlzeiten zugewandt, und nur noch ein paar vereinzelte blickten erwartungsvoll in meine Richtung, unter anderem der Schönling mit den schwarzen Haaren. Niemand schien an der Unverschämtheit der beiden Männer auch nur ansatzweise Anstoß zu nehmen! Und schlagartig wurde mir klar, was mich mein junges Leben hindurch eigentlich vor derlei Situationen bewahrt hatte. Mein Priestergewand. Es war der einzige Grund gewesen, weshalb mich die anderen Jungen aus Nebelhaim nach meiner Pfadesweihe nicht mehr verspottet hatten. Und vermutlich war es all die Jahre auch der einzige Grund gewesen, dass ein jeder bei meinem Eintreten in die örtliche Schenke demütig den Kopf senkte oder zumindest Anstand genug hatte, mir keine Fleischbrühe über den Kopf zu schicken! Du bist ein Niemand, Jaél. Ohne dein Priestergewand bist du nur ein weiterer, gewöhnlicher Mann, weder dick noch dünn, weder alt noch jung, weder hässlich noch schön. Bedeutungslos. Für einen kurzen Moment stieg das glimmende Bedürfnis in mir auf, meine Priesterbrosche, die ich zurückzulassen nicht übers Herz gebracht hatte, aus der Reisetasche zu ziehen. Wie würden sie dreinblicken, diese Primitvlinge! Mit schreckgeweiteten Augen würden sie das Pfadesgebet vor mir aufsagen und mich um Vergebung bitten. Sie würden mich was du darstellst respektieren, ja, sie würden vor Ehrerbietung den Kopf senken, weil sie Angst vor der Macht des heiligen Ordens haben. Natürlich würden sie das. Einen Priester des Pfades zu missachten, kommt einem Kapitalverbrechen gleich, und nur ein Narr würde eine derartige Strafe riskieren …

Nein. Mich als Priester zu offenbaren bedeutete nicht nur, sich auf der Autorität anderer auszuruhen, sondern auch, wieder in mein falsches Leben zurückzukehren, und ich spürte bereits, wie sich mein Magen wieder warnend zusammenzog.

Ich musste mich fügen. Also atmete ich tief ein und schluckte meine glühende Scham herunter. Stumm signalisierte ich der Schankmagd an den spöttischen Blicken der Freibeuter vorbei, dass ich ein Zimmer beziehen wolle. Die Lust auf eine Mahlzeit war mir vergangen, schon gar nicht unter den Augen der Anwesenden, die meiner Erniedrigung beigewohnt hatten. Die Schankfrau nickte mitleidig und bedeutete einem alten Mann, der auf einem Stuhl hinter dem Tresen saß und mich undefinierbar musterte, mir den Weg zu zeigen. Schweigend verließ ich den Schankraum und folgte dem alten Mann hinauf in das obere Stockwerk. Erst als wir vor meiner Zimmertür angekommen waren, ließ das Gefühl, die Häme der Grobiane wie ein Schwert in meinem Rücken zu spüren, allmählich nach. Ich übergab dem alten Mann fünf Groschen, er mir die Schlüssel, eine brennende Kerze, die er aus dem Schankraum mitgenommen hatte, und ein Stofftuch zum Reinigen, was vermutlich als wohlwollende Geste gemeint war, meine Scham allerdings noch verschlimmerte. Stumm wand ich mich ab, betrat meine Kammer und verschloss die Tür hinter mir. Ohne dem Bett auch nur Beachtung zu zollen, trat ich zum Fenster und starrte in den Regen. Dann überkam mich mein Zorn wie eine Flut. Ich stieß einen unterdrückten Schrei aus, schloss meine Augen und krallte mich mit meinen Händen am Fenstersims fest. Beim schwarzen Wächter, was war ich wütend! Zwar wusste ein rationaler Teil von mir sehr wohl, dass ich verhältnismäßig glimpflich weggekommen war. – In raueren Kneipen war es keine Seltenheit, dass der eine oder andere Raufer die Zankerei mit einem gebrochenem Arm oder Schlimmeren verließ. Dennoch war ich nicht bereit, das Geschehene zu akzeptieren und beiseite zu legen. Hatten diese beiden Menschen denn gar keinen Respekt? Derlei Pack gehörte gehängt, geflegelt und gehäutet, wie Briganten und Marodeure, und am besten vor den Augen aller anderen! Mein Kiefer verkrampfte sich, und ich spürte, wie das Gefühl in meinem Magen begonnen hatte, sich zu verändern. Aus dem flauen Gefühl der Unsicherheit war nun eine lodernde Wut geworden, mit der eine eiserne Entschlossenheit einherging. Ich werde mein neues Leben nicht in Schande beginnen. Ich schlug meine Augen wieder auf und wandte den Blick zu der Kerze, die mir der Gastwirt mitgegeben hatte. Knisternd brannte die Flamme, und auf eine seltsame Art und Weise bestätigte mich ihr Feuer in meiner Entschlossenheit. Ich wollte den beiden Affenmenschen eine Lektion erteilen, und wenn es das Letzte war, was ich tat. Aber wie? Was kann ich schon, außer Predigten halten, Bücher lesen und Kräuter mischen?

Ich hielt inne. Ja … Nun war ich geradezu dankbar dafür, dass die beiden respektlosen Primitivlinge mir zu genau jenem Zeitpunkt an genau jenem Ort begegnet waren. Ein maliziöses Grinsen umspielte meine Lippen, und ich wandte meinen Blick wieder dem Fenster zu. Für einen kurzen Moment staunte ich über den Mann, der mir aus dem stummen Glas entgegensah. Seine blassblauen Augen glichen brennendem Eis, ein Widerspruch, der an ihm jedoch so natürlich zu sein schien wie Sonnenfeuer im herbstlichen Zwielicht, und seine Haltung hatte nichts mehr von dem katzbuckelnden Pater, der vor nicht einmal einer Woche noch Waschfrauen seinen Segen gegeben hatte. Ja, der Mann strahlte beinahe etwas wie … Macht aus. Entschlossenheit. Feuer.