Enderal:Aufzeichnungen des Wegelosen

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Aufzeichnungen des Wegelosen

Bücher Aufzeichnungen des Wegelosen
Daten
Gewicht Gewicht
1
Wert Wert
30
Autor
Der Wanderer
Bemerkungen
-

Aufzeichnungen des Wegelosen ist ein Buch in Enderal – Die Trümmer der Ordnung.


Fundorte


Inhalt

Die Aufzeichnungen des Weglosen Wanderers
Der Wanderer

Beglückwünscht seid Ihr, Leser dieser Zeilen, unermüdlicher Abenteurer, der Ihr mein Versteck gefunden habt und nun dieses Buch in den Händen haltet! Dies sind die Aufzeichnungen des Weglosen. Nicht irgendeines Weglosen, nein, es sind die Niederschriften einer wahrhaften Berühmtheit: des Weglosen Wanderers.

Jener, der ohne Zweifel auch nach seinem Tod im Lied vom Weglosen Wanderer überall in Enderal besungen wird. Die Anhänger Malphas' haben schon zu meinen Lebzeiten alles daran gesetzt, dieses elende Lied im Land zu verbreiten. Es gibt keinen Barden, der es nicht in seinem Repertoire hat, keinen Bürger, der es nicht irgendwann bei der Arbeit oder auf dem Weg zum Markt vor sich hinsingt. Warum sollte es jetzt, wo ihr dieses Buch meinen verrottenden Überresten entrissen habt, anders sein? Die Lieder, von denen die Menschen nicht wissen, wovon oder von wem sie wirklich handeln, halten sich am längsten. Oder kennt Ihr etwa den Namen des Barden, der das Lied einst niederschrieb? Ich habe ihn selbst getroffen, nach meinen Erzählungen verfertigte er seine Notizen, die er dann später zu jenem Zerrbild umdichtete, das ihr in jedem Gasthaus vorgetragen bekommt, ob ihr wollt oder nicht.

Ein junger Kerl war er, ehrgeizig und neugierig. In meiner Hütte in der Unterstadt besuchte er mich, auf der Suche nach spannenden Geschichten, wie er sagte. Gerade war er zurückgekehrt von einer Reise nach Nehrim. Die Barden dort seien stumm, sagte er, nur ihre Lauten würden sie spielen in den Straßen, und wenn die Menschen dort Gesang hören wollten, mussten sie warten, bis Musikantengruppen aus fernen Landen im Theatrum von Erothin auftraten. Als er die leeren Geldsäckel seiner dortigen Kollegen erblickte, wurde ihm einer der bardischen Grundsätze Enderals bestätigt: dass die Menschen nicht nur Musik, sondern auch Geschichten hören wollten. Und er war ein guter Zuhörer. Ehe ich mich's versah, hatte ich ihm meine Lebensgeschichte ausgebreitet, und die Papiere füllten sich mit seinem Geschreibsel. Wie konnte ich ahnen, dass ein derartiges Machwerk daraus resultieren würde? Doch letztendlich kann es nicht verwundern. Zu verlockend sind die Reichtümer, die jenen versprochen werden, welche dem Kult Malphas' dienlich sind.

Und so verfasste er kein wahrhaftiges Lied nach alter Barden Art und Ehre, sondern schrieb eines, mit dem er sich die Gunst der dritten Macht, der Paladine, sicherte. Unbekannt blieb sein Name, doch der Geldbeutel war für den Rest seines Lebens gefüllt. Und ich? Erhielt von dem Geschichtensammler ein Almosen, wurde aber zu Lebzeiten eine Berühmtheit. Eine Berühmtheit, welche die Bürger erschaudern ließ, ein schlechtes Vorbild, welches schon den Kindern vorgehalten wurde, um sie auf dem rechten Pfad zu halten. In der Unterstadt sprach sich sofort herum, wer töricht genug gewesen war, dem reisenden Barden sein Herz auszuschütten. Und von dort aus verbreitete sich die Kunde von jenem, der den Pfad verschmähte, welcher ihm zugedacht war. Jeder der Bewohner dieses verdammten Viertels hätte dieser Weglose Wanderer sein können, doch so war auch jeder bereit, gegen gute Bezahlung mit dem Finger auf meine Hütte zu zeigen.

Den Paladinen war meine Bekanntheit zunächst suspekt, hatten sie sich doch gefreut, mit dem Lied vom Weglosen Wanderer ein so eingängiges, aber auch anonymes und allgemeingültiges Werkzeug erhalten zu haben, das die Menschen gleichzeitig unterhielt und einschüchterte. Zu vage waren die Worte des Textes, zu alltäglich die geschilderten Leiden und Verfehlungen, als dass nicht fast ein jeder sich darin erkennen konnte.

Doch es stellte sich heraus, dass meine pure Existenz eine willkommene Ergänzung zu den Allgemeinplätzen des Liedes war, auch wenn keiner, der meine ärmliche Bleibe in der Unterstadt ansah, danach mehr über den Weglosen Wanderer wusste als zuvor. Die Menschen fühlten sich von der Mahnung des Liedes angesprochen und waren verunsichert, und mit einem Besuch bei mir konnten sie sich vergewissern, dass es doch ein anderer war, den es getroffen hatte. Die lebende Mahnung, nicht so zu werden, sondern immer schön auf den Pfaden zu bleiben, die schon bei der Geburt vorgegeben werden. Sie kamen in Scharen von überall her, nur, um einen Blick auf denjenigen zu werfen, der ihnen mit seiner gescheiterten Existenz einen wohligen Schauder und die Gewissheit bereitete, mit dem unhinterfragten Befolgen der Lehren Malphas' das Richtige zu tun. Feine Damen aus der Oberstadt ließen sich von ihren Bediensteten Tücher auf die staubigen Wege legen. "Dass mir kein Schmutz auf die guten Schuhe kommt. Es sind echte Boddenbruuks aus Nehrim!", keiften sie, während sie ihre gerümpften Nasen an meinen Fenstern plattdrückten, um mit eigenen Augen das Elend zu studieren, in dem der wegloseste aller Weglosen sein Dasein fristen musste.

Die Spiele der Kinder waren nicht weniger grausam. Den ganzen Tag über waren sie zu hören: "Wer irrt ins Nichts? Wer irrt ins Nichts? Der Weglose Wanderer, der Weglose Wanderer!" Dabei traktierten sie einen aus ihrer Mitte, dem sie die Augen verbunden hatten, mit Stöcken. Nach einiger Zeit durfte dann ein anderes Kind, das einen aus Zweigen geflochtenen Kopfschmuck trug, dem Weglosen die Augenbinde entfernen und mit höchstmöglicher Würde sagen: "Komm zurück auf Malphas' Pfad!" Zur Belohnung durfte dann in der nächsten Runde der Gepiesackte die Krone aus Zweigen aufsetzen und den Paladin spielen. Immer näher an meine Hütte heran kamen sie bei diesem Spiel. Ihren Mut wollten sie sich damit gegenseitig beweisen. Wenn ich mich dann dochirgendwann dazu hinreißen ließ, die Tür zu öffnen und sie mit einem bösen Blick zu verjagen, liefen sie kichernd und kreischend auseinander, nur um das Spiel nach einer Weile erneut zu beginnen.

Eine Weile lang ließ ich mir diesen Zustand gefallen. Schließlich hatte ich nur diesen Ort, diese armselige Hütte inmitten des Schmutzes der Unterstadt. Sie war nach zahllosen, langen Reisen meine letzte Zuflucht geworden. Kein anderer Ort war mir mehr geblieben, keine Gesellschaft wollte einen aufnehmen, der so viele Jahre abseits von dem Pfad verbracht hatte, der ihm bestimmt war. Was hatte mich zu diesen Reisen, diesem Umherirren getrieben? War es ein Traum, den ich im tiefen Abendrot suchte? Lächerlich! Was diese Bänkelsänger sich nicht alles einfallen lassen, damit eine Liedzeile in ihren Ohren nach dem klingt, was sie für Poesie halten.

Keinen Traum habe ich gesucht, sondern Antworten! Antworten auf all die Fragen, die einem diese Welt stellt, und die mir nicht die immer gleichen, monoton hingemurmelten Leitsätze Malphas' beantworten konnten, die von allen Bürgern Enderals auswendig gelernt werden.

Keine einzige Antwort habe ich gefunden, aber die Liebe. Einer der wenigen Punkte, in denen das Lied bei der Wahrheit bleibt. Die Liebe dieser Frau war so groß, dass sie dazu bereit war, mit mir das elende Leben in der Unterstadt zu teilen. Doch es war zum Scheitern verurteilt. Ihr blieben nur Trauer und Leid. Und was das Lied vergisst zu erwähnen: Der Tod.

Ja, ich verließ sie, ich wanderte wieder von dannen. Um sie zu schützen vor den Schurken und Halsabschneidern der Unterstadt, die nach dem Reichtum gierten, den sie bei ihr vermuteten. Ich verließ sie, damit sie zurück in den Schoß ihrer Familie kehren konnte, zurück in das behütete Leben, das sie führte, bevor sie mit mir durchgebrannt war. Ach ja, ihr wisst es ja nicht, das Lied hat es euch verschwiegen: Die Tochter des reichen und angesehenen Fürsten Dal'Brois war's, die schöne Juliana. Schande brachte sie über ihre Familie, als sie mit einem Weglosen verschwand und das bittere Leben in der Unterstadt dem Luxus vorzog, den sie bis dahin genossen hatte. Ich ging fort. Ließ eine Nachricht zurück, in der ich sie wissen ließ, dass ich wieder in die Ferne ziehen wollte und nicht zurückzukehren gedachte. Schrieb etwas von einer anderen Frau in einem fernen Land. Schrieb alles, um sie fortzutreiben von dem Ort, an dem ein Leben mit mir nur auf ein Unglück zulaufen konnte. Und sie ging zurück.

Schon kurze Zeit nach meinem schändlichen Verschwinden kehrte ich heimlich in die Stadt zurück, um zu sehen, ob mein Plan, Juliana von dem Elend, das ein Leben mit mir unweigerlich nach sich ziehen musste, aufgegangen war. Ob sie wieder zurückgefunden hatte in ein Leben, das ihr Ruhe und Sicherheit bot. Ein Leben, das es ihr erlaubte, eines Tages Kinder großzuziehen in einer Umgebung, die zwar verlogen und dekadent war, aber immerhin nicht dem Leiden und dem Tod geweiht war wie jenes, das ich ihr in der Unterstadt bieten konnte. Doch ich hatte nicht mit der Verderbtheit der Mächtigen gerechnet. Im Gebüsch des Schlossgartens, in dem ich mich unter ihrer Kammer versteckte, konnte ich das Wehklagen von Julianas Mutter, der Fürstin, hören. Ihr Mann versuchte sie mit ruhigen Worten zu trösten. Er sprach von dem Fluch, den ein Leben in der Unterstadt mit sich zog, von dem Abschaum, den Juliana durch ihre Entscheidungen in ihr Leben geholt hatte. Sie war ermordet worden, heimlich und heimtückisch in der Nacht, in ihrem eigenen Zimmer im Schloss.

Das Weitere nahm ich wie in einem Albtraum, der sich in den Halbschlaf hineinschleicht, wahr. Ich wusste, wohin ich meine Schritte lenken musste. Ich kannte all die Ecken und Verstecke, die heimlichen Treffpunkte der Unterstadt. Und tatsächlich, nur einige Stunden später sah ich den Fürsten, vermummt in Mantel und Kapuze, begleitet von zwei schwer bewaffneten Wachen. Einen armen Trottel hatte er gefunden für sein Vorhaben. Der glaubte, bei diesem Treffen seinen schmutzigen Lohn zu erhalten für den Auftragsmord.

Stattdessen bekam er das Schwert zwischen die Rippen. Ein weiterer Toter, den man beim Sonnenaufgang in der Gosse finden würde. Und die Familie Dal'Brois war frei von allem, was ihren Ruf schädigen konnte. Die Blutlinie der Familie und alle Verzweigungen ihres Stammbaums würden weiterhin nur von jenen fortgeführt werden, deren Leben ohne Makel entlang des Malphaspfades verlaufen war. Warum jetzt? Warum war Juliana verschont worden, als sie noch mit mir zusammen in der Unterstadt lebte? Wie konnte man sein eigen Fleisch und Blut töten lassen? Ihr, Leser dieser Aufzeichnungen, seid hoffentlich weniger naiv, als ich es damals gewesen war. Erst mit der Zeit ging mir die Logik des Barons auf: Als Weglose und Verstoßene war Juliana kein Mitglied der Familie mehr gewesen, niemand hätte sich für sie rechtfertigen müssen. Wie ein jeder, der sein Dasein in der Unterstadt verbringen musste, war sie nicht mehr existent.

Kein Buch hätte sie jemals wieder erwähnt, in den Annalen der Familie wäre sie wie eines der vielen früh verstorbenen Kinder in den Randnotizen verschwunden. Erst als reumütige Zurückgekehrte, die gesenkten Hauptes den Malphaspfad wieder beschritt, war sie zur Gefahr für die Familie des Fürsten geworden. Jahrhundertelang waren sie die großen Vorbilder gewesen, nur Malphastreue hatte das Haus hervorgebracht. Diese Tradition suchte der Fürst Dal'Brois zu wahren, um jeden Preis. Die Reumütigen, die den Pfad, nachdem sie ihn einmal verlassen hatten, wieder aufsuchten, waren die Lieblinge des Ordens. Mit ihrer Scham und der Schande waren die Gefügigsten, die am leichtesten Kontrollierbaren. Um nichts in der Welt wollte der Fürst sich diese Schwäche in sein edles Haus holen. Er wollte dem Orden weiterhin auf Augenhöhe begegnen können.

Mir war es gleich, jetzt, wo meine Hoffnung zerstört war, die Frau, die ich liebte, wenigstens von der Ferne aus glücklich zu sehen. Ich kehrte zurück in meine leere Hütte in der Unterstadt und lebte vor mich hin. Fragen hatte ich keine mehr an die Welt, doch immerhin konnte das Elend, das dort herrschte, mich auch nicht mehr erschüttern. Ich wartete darauf, dass die Jahre vergingen und der Tod seine Kreise immer enger um mein Heim ziehen würde. Fürst Dal'Brois tat mir nicht den Gefallen, auch mir einen Assassinen auf den Hals zu hetzen. Zu unwichtig war ich, zu ungefährlich für das hohe Haus, das jetzt befreit war von der Schande in seiner Mitte. Nicht einmal die Fürstin, die wohl wahrhaftig um ihre Tochter getrauert hatte und nicht ahnte, wer wirklich für Julianas Tod verantwortlich war, hätte mir geglaubt, wenn ich jemals zu ihr vorgedrungen wäre. Ich war nur ein Wegloser.

Und dann kam der Barde. Zum Henker, wie konnte ich ahnen, dass es dem Burschen gelingen würde, mich noch einmal derart zum Reden zu bringen? Danach war es vorbei mit der Ruhe. Die Gaffer. Die Kinder. Der Lärm. Erst überlegte ich, all mein Wissen herauszuschreien, um vielleicht doch noch von den Schergen des Barons niedergestreckt zu werden. Doch ich wollte nicht an diesem Ort sterben. Ich reiste noch ein letztes Mal, lange und weit, um diese Höhle zu finden, einen Ort, der fernab war von all dem, was ich nicht mehr sehen und hören wollte. Und noch eines: Niemals habe ich bereut, nicht den Weg Malphas' eingeschlagen zu haben.

Und niemals habe ich irgendwem geraten, auf Malphas' Pfad zu bleiben. Es hat mich auch keiner mehr gefragt. Keiner wollte jemals mehr meinen Rat hören. Ihr Leser dieser Zeilen, seid ihr ein Malphasjünger? Dann übergebt dieses Papier der nächsten Feuerstätte. Ergötzt euch daran, diese Zeilen in den Flammen brennen zu sehen, die ihr für das Feuer der Wahrheit haltet.

Doch seid ihr ein freier Geist, einer, dessen Gedanken nicht nur auf den engen Pfaden wandeln, die ihm vorgezeichnet werden, dann nehmt diese Zeilen mit euch. Vielleicht könnt ihr mit der Geschichte meines Lebens mehr bewirken, als ich es selbst vermochte. Findet andere, die sie lesen wollen und die bereit sind, daraus zu lernen, wie verderbt die Fäden sind, mit welchen die Mächtigen dieses Land überziehen.