Enderal:Der Schlächter von Ark, Buch 8: Masken

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Kapitel 8: Masken

Drei Monate verstrichen, bis Qalian mich für würdig erachtete, das Aufnahmeritual abzulegen, welches mich zu einem vollwertigen Bruder der Schwarzen Waage machte. Er fragte mich nie, ob ich diesen Weg tatsächlich beschreiten wollte, jetzt, wo ich um seine wahre Natur wusste. Die Tatsache, dass ich blieb, war Antwort genug. Was hätte ich auch sonst tun sollen?

Ich war vor einer ungreifbaren Angst aus meinem alten Leben geflohen, um herauszufinden, woher genau diese kam. Und so skurril es euch auch erscheinen musste – ich hatte das Gefühl, mit Qalian und dem Feuer den rechten Weg gefunden zu haben. Wir werden als Diener der Waage geboren, hatte er mir eines Abends gesagt. Aber es ist an uns, unsere Bestimmung zu erkennen. Er selbst hatte als Sohn eines Adeligen das Licht der Welt erblickt, wie er mir anvertraut hatte. Und obwohl ihm – anders als mir – nicht die Erinnerungen an die ersten Jahre seines Lebens fehlte, hatte er ebenfalls schon immer ein schwammiges Gefühl, eine Gewissheit, gehabt, dass er zu Anderem bestimmt sei. Auch in seinem Geist war etwas versteckt, das er nicht zu deuten wusste, und auch er hatte die flüchtigen Augenblicke gekannt, in denen dieses Etwas für nur den Hauch einer Sekunde die Schwelle zum Bewusstsein übertreten hatte. Sein Schlüsselerlebnis war seine erste Läuterung gewesen: Eine als Maid verkleidete Assassinin war in seine Gemächer eingedrungen. Es hätte der Racheakt einer verfeindeten Familie werden sollen, aber Qalian hatte die List durchschaut und die gedungene Mörderin überwältigt. Für ihn war der Nektar ihrer Sünden das Übertreten der ersten Schwelle gewesen.

Welche Hürden er von diesem Moment an noch hatte überwinden müssen, hatte er mir nicht anvertrauen wollte. Ich wusste nur, dass eine unmittelbar vor mir lag. Die Ungewissheit während der Zeit des Wartens störte mich nicht. Ich lernte viel, und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, besonders zu sein. Wie einfältig mir doch die Menschen auf den Straßen erschienen! Voller Ignoranz lebten sie ihr ordinäres Leben, beteten zu den Göttern und glaubten, dass Wegestreue und Frommheit allein sie vor dem Abgrund zu schützen vermochte. Aber wie verblendet sie doch waren. Keine fremde Macht nahm uns die Verantwortung ab, uns vor der Sünde zu schützen. Wir allein entschieden, wann wir uns hingaben. Wann wir schwach waren.

Die Menschen wollen keine Verantwortung für sich tragen, mein Freund, hatte mir Qalian eines Tages gesagt. Das wollten sie noch nie. Immer mehr begann ich, die Welt als ein Spielbrett zu betrachten. Die Natur, die Sterne oder uns fremde Gottheiten hatten die Rahmenbedingungen gesetzt und beobachteten die Menschheit nun mit großer Freude dabei, wie sie zu bestehen versuchte. Ob es in ihrer Macht gestanden hätte, Versuchung und Sünde ganz und gar aus dem Lauf der Dinge zu entfernen? Ich weiß es nicht. Nie jedoch durfte das Böse die Übermacht gewinnen, und genau deshalb waren wir die, die wir waren.

Ein Sehender unter den Blinden zu sein, war ein erhebendes Gefühl. Wie oft hatte ich mich in meinem alten Leben machtlos gefühlt, mich darüber erzürnt, dass es in unserer Welt keine wahre Gerechtigkeit zu geben schien. Wie oft hatte ich – selbst in meinem kleinen Dorf – erlebt, dass ein Mann, der schuldig wie die Sünde selbst war, durch Status, Prestige oder Gold seiner gerechten Strafe entgehen konnten, während ein Landstreicher bereits für das Stehlen eines Huhns im Kerker landete. Und so sehr mich diese Erkenntnis verbitterte, so hatte ich doch damals geglaubt, dass dies einfach die Spielregeln der Welt waren. Die Schwarze Waage jedoch änderte alles – und der Gedanke, Teil davon zu sein, erfüllte mich mit einem Gefühl von Triumph und Euphorie, in einem Ausmaß, das ich selbst nicht wirklich verstand. War dies die Ursache für die Angst gewesen? Dass ich, Jaél Gerbersohn, meine wahre Bestimmung stets gespürt hatte? Meine Bestimmung, der Welt wahre Gerechtigkeit zu bringen?

Selbst jetzt, nachdem ich die Irrsinnigkeit der Waage erkannt habe, fehlt mir die Antwort auf diese Frage. Ich weiß nur, dass es sich damals richtig anfühlte.

Anders als Ihr nun vielleicht glaubt, wählten wir Brüder der Waage unsere Opfer nicht nach Willkür. Hatte ein Verdorbener sich zu vieler Sünden verantwortlich gemacht, so wurde das für die Tötung erwählte Mitglied durch einen Brief über die „Mission“ benachrichtigt. Wie dieser ungeachtet von Aufenthaltsort und Umständen stets sein Ziel erreichte, ist mir bis heute nicht klar. Er enthielt nur zwei Informationen: Ein gezeichnetes Bild und einen Namen. Der Rest – das Sammeln weiterer Informationen und das Planen der Tötung – blieb dem Erwählten überlassen.

Bis zu meiner Prüfung erhielt Qalian vier solcher Briefe, und dreien der Tötungen wohnte ich bei.

Ihr mögt Euch über die Beiläufigkeit wundern, mit der ich dies schreibe. Aber wie ich bereits sagte: Es gibt beinahe keinen Umstand, an den sich der menschliche Verstand nicht gewöhnen kann. Und ich hatte mich an die Läuterungen gewöhnt. So grausam unsere Taten auch manchmal erscheinen mochten; sie waren stets gerechtfertigt. Die Menschen, die wir töteten, waren allesamt verdorben und hatten es durch Reichtum oder Durchtriebenheit geschafft, der richtenden Hand zu entkommen. Nicht aber der unseren. Die Waage war älter als Enderal, als die Lichtgeborenen, ja vielleicht sogar als die Gezeiten. Niemand wusste, welcher Fürst, welcher Gott oder welche gestaltlose Macht hier ihre Fäden zog. Und niemand wusste, was die Auserwählten von dem gemeinen Volk unterschied.

Aber selbst wenn ich es gekonnt hätte, wäre ich dieser Frage nicht weiter nachgegangen. Mir war einerlei, warum ich Qalian getroffen hatte, woher die seltsame Vision gestammt hatte.

Mit dem Feuer im Blut war ich nicht mehr nur irgendjemand. Ich war besonders.

~

Eben jenes Gefühl trug ich auch in mir, als ich drei Monde später an Qalians Seite in einer Kutsche saß. Die Zeit war gekommen, hatte man mir gesagt. Ich war nun würdig.

Würdig … Ich wollte einen Blick aus dem Kutschenfenster werfen, bis mir wieder klar wurde, dass die Gläser mit schwarzen Tüchern verhangen waren. Kein Lichtstrahl drang in die Kabine ein, und nur eine von der Decke hängende Laterne spendete uns Licht. „Daran wirst du dich gewöhnen müssen“, sagte Qalian. „Nicht einmal ich weiß, wo sich die Bastionen befinden.“

„Bastionen?“

„Die Stützpunkte. Ihre Tempel. Auf jedem Kontinent gibt es einen, aber niemand weiß, wo sie liegen.“

Ich nickte. „Wäre ich ein Spion, könnte ich sonst alles auffliegen lassen.“

„Könntest du nicht“, erwiderte Qalian. „Die Schwarze Waage kann genauso wenig zerschlagen werden wie ein verbotener Gedanke. Man kann ihn verbieten, man kann seine Niederschriften verbrennen, aber verschwinden wird er nie. In dieser Prüfung geht es nicht um deine Loyalität“, fuhr er fort. „Hättest du sie nicht, hätte ich dich schon längst getötet.“

Ich erschauderte. „Worum dann?“

„Um Grenzen.“ Er machte eine kurze Pause, wie um seine Worte zurechtzulegen. „Du magst zwar glauben, dass du sie bereits überschritten hast, aber das hast du nicht. Tief in dir“ – Er deutete mit seinem Zeigefinger zwischen meine Augen – „sind sie noch da.“

„Wir, die wir uns voll und ganz der Waage verschrieben haben, sind anders als normale Menschen, Jaél.“

Ich nickte. „Das Feuer.“

„Ja, das Feuer. Aber du machst den Fehler, zu glauben, dass du bereits alles darüber wüsstest. Du hast dich von seiner Macht lenken lassen, du spürst seine Stimme in dir. Und du hast es die Sünden der Besessenen kosten lassen. Aber das ist nur ein Bruchteil dessen, was einen wahren Diener der Waage ausmacht.“

In meinen Magen kribbelte es, so als ob das Feuer Qalians Aussage bejahen würde. Seine Worte hallten in meinen Gedanken wider. Ich spürte, dass noch eine meilenweite Schlucht zwischen mir und meinem Kumpanen – und Mentor – lag. Von den offensichtlichen Dingen abgesehen – sein Tötungsgeschick und sein selbstsicheres Auftreten – gab es noch etwas, was ich nicht zu deuten wusste. Und je länger ich darüber nachdachte, desto mehr kam ich zu der Erkenntnis, dass es etwas in seinem Blick war. Etwas in der Art, wie er die Welt betrachtete. Luzide war das erste Wort, das mir dazu einfiel.

„Und was genau ist das?“, fragte ich ihn schließlich.

„Grenzenlosigkeit“, erwiderte er. „Die vollkommene Hingabe.“

Als er meinen irritierten Gesichtsausdruck sah, lächelte er. „Es ist das, was du dein Leben lang gesucht hast, ohne es zu finden. Wonach wir alle tief in uns streben. Aber nur manche sind dazu bestimmt, es jemals erfahren zu können.“ Er lehnte sich zurück und schlug das rechte Bein über das linke. „Und du hast die Möglichkeit, einer davon zu sein.“

Ich erwiderte nichts, wohl wissend, dass Qalian mir nicht mehr verraten würde. Konnte.

Eine gute Stunde später kamen wir an. Der vermummte Kutscher, der uns am heutigen Abend stillschweigend abgeholt hatte, öffnete uns die Tür, in seiner rechten Hand ein schwarzes Stück Stoff. Außen konnte ich nichts außer dem klaren Licht der Sterne erkennen. Qalian griff nach dem Tuch und packte es mit beiden Händen.

„Tut mir Leid, aber es muss sein.“

Ich begriff, was er vorhatte, und fügte mich widerstandslos. Lautlos glitt der schwarze Stoff über meinen Kopf, und um mich herum wurde es schwarz. Dann packte Qalian meine Hand und leitete mich nach draußen. Der Boden unter meinen Stiefeln knirschte. Schnee. „Komm“, vernahm ich die Stimme meines Kumpanen und spürte einen sanften Ruck in meinem linken Arm.

Ich folgte ihm.

~

Eine gute halbe Stunde musste es gedauert haben, bis ich das erste Mal Fuß in die endraläische Bastion der Waage setzte. Einige Momente, nachdem wir dem Echo unserer Schritte nach eine Art Höhle betreten hatten, hatten sich mehrere Stimmen zu uns gesellt. Dann war ich aufgefordert worden, mich zu setzen, und man hatte mir die Augenbinde abgenommen, mir aber gleichzeitig befohlen, die Augen erst zu öffnen, wenn ich das Läuten einer Glocke vernehmen würde. „Sieh genau hin“, hatte Qalian mir zugeraunt, bevor ich schließlich hörte, wie sich Stimmen und Schritte weiter entfernten und eine große Tür ins Schloss fiel.

Pflichtgetreu hielt ich meine Augen geschlossen. Ein helles Läuten ertönte.

Ich befand mich in einem großen, runden Raum. Seine Wände reichten weit nach oben und die Decke war kuppelartig geformt, sodass er auf mich den Eindruck einer Kapelle machte. Lediglich die turmhohen Säulen, die in präzisen Abständen vor mir in einer Art Gang zum gegenüberliegenden Ende des Raumes führten, und zahlreiche Kerzenständer mit dunkelroten Flammen brachen die Leere. Erst beim zweiten Hinsehen merkte ich, dass die steinernen Wände bemalt waren.

Anders als ich es jedoch aus den endraläischen Tempeln gewohnt war, zeigten die Wandmalereien keine Heiligen oder die zwölf Schritte der ersten Vasallen. Das Wandgemälde war in insgesamt neun einzelne Bilder aufgeteilt. Ich wandte meinen Kopf nach links, um das Bild unmittelbar neben mir zu begutachten.

Zu sehen war ein athletischer, bis auf einen Lendenschurz unbekleideter Mann, der auf einer unebenen Felsenstraße stand, die einen Hügel hinaufführte. Die Umgebung, in der er sich befand, war kahl und tundrenartig, und der silberne, prachtvoll am Himmel stehende Mond tauchte die Szene in ein helles, klares Licht. Der Mann hatte den Blick vom Mond abgewandt und trug eine stählerne Maske. Sie war schlicht und bis auf die zwei kleinen Augenschlitze ornamentlos, aber etwas an ihr faszinierte mich auf eine Art und Weise, die ich einfach nicht zu beschreiben vermag. Sie wirkte … vollkommen. Jeder Muskel des Maskenträgers war angespannt, und seine beiden Hände waren gen Himmel gestreckt, so als ob er einen göttlichen Segen empfange. Einen endlosen Augenblick lang starrte ich das Bild an. Von ihm ging etwas aus, was sich am besten als Aura bezeichnen ließ, und es löste in mir ein eigentümliches Gefühl von Freude und Angst aus. Erst nach Minuten fiel mir ein kleiner Schriftzug in der unteren Ecke des Bildes auf. Ich kniff die Augen zusammen, um ihn zu entziffern. Die Wiedergeburt.

Ich ließ meinen Blick noch einige Augenblicke auf dem Gemälde verweilen, runzelte meine Stirn und wandte mich ab. So faszinierend das Gemälde auch sein mochte, ich war hier, um meine Prüfung abzulegen, wie auch immer diese aussehen sollte. Also richtete ich meinen Blick wieder nach vorne und wartete.

Aber nichts geschah. Ich wurde unruhig. Was erwartete man von mir? Verunsichert warf ich einen Blick hinter mich – die stählerne Tür war geschlossen. Vielleicht soll ich Geduld beweisen, besänftigte ich meine Gedanken. Ich senkte erneut den Blick und versuchte zu meditieren, wie es Qalian mich gelehrt hatte. Fünf Minuten vergangen. Zehn. Nichts.

Ich spürte, wie mein Magen rumorte und schalt mich einen Narren, in der Hast unseres Aufbruchs auf ein Abendmahl verzichtet zu haben. Nur ein wenig die Beine vertreten, schoss es mir durch den Kopf, das wird niemanden stören. Mit knackenden Knien richtete ich mich auf. Meine Waden begannen vom Stillsitzen zu kribbeln. Langsam und gemächlich, als könne ein allzu hastiges Dahinschreiten meine unsichtbaren Beobachter verschrecken, ging ich den langen Raum ab, in der Hoffnung, eine fremde, mysteriöse Stimme oder die Sichtung eines anderen Menschen würde mich aus meiner Unwissenheit erlösen.

Vergebens. Zwei Stunden vergingen, ohne dass sich auch nur ein Staubkorn in der sakralen Halle zu rühren schien. Erst dann begriff ich, dass niemand kommen würde. Was auch immer meine Prüfung war, scheinbar erwartete man von mir, dass ich eigenständig agierte. Aber was soll ich tun? Mir war klar, dass der Weg zum erfolgreichen Bestehen der Prüfung nicht durch die Tür, durch die man mich hereingebracht hatte, führte: Also bemühte ich mich, einen versteckten Hinweis in dem Raum zu finden.

Ich begann, mich hilflos zu fühlen. Was sollte das werden? Eine Art Test meiner Willenskraft? So ein Unfug, dachte ich zornig. Ich unterdrückte meinen Impuls, zurück zur Eisentür zu gehen zu klopfen. Was sie wohl mit denen tun werden, die nicht bestehen? Ich ahnte es, aber wollte es nicht genauer wissen. Qalian hätte mich warnen müssen, dachte ich bitterlich, oder mir zumindest … Sieh genau hin.

Ich hielt inne. War das ein Hinweis gewesen? Aber wohin? Der Raum war komplett leer. Oder … Die Malereien. Ja, natürlich – wie konnte ich so blind gewesen sein? Ich hatte das Kunstwerk für bloßen Dekor gehalten. Aber konnte in ihm der Schlüssel zu dieser Prüfung verborgen liegen?

Hastigen Schrittes machte ich kehrt und hielt vor der Zeichnung rechts der Tür inne. Wenn die Gemälde irgendwie zusammenhängen und das linke Bild mit dem Mann – Die Wiedergeburt – das letzte ist, dachte ich, dann muss das hier das erste sein. Unsicher begutachtete ich das Gemälde. Es zeigte ebenfalls einen Mann, nackt, den Blick zum Betrachter gewandt. Er trug eine Maske, wie der Mann in der Wiedergeburt, der mir trotz kräftigerer Statur wie ein und derselbe erschien. Diese Maske jedoch war anders. Sie war aus dünnem, hautfarbenen Stoff und wirkte auf mich eher wie eine künstliche Haut, straffgezogen und rissig wie die eines sterbenden Greises. Mit einem Gefühl von Ekel, das ich mir selbst nicht erklären konnte, wandte ich den Blick von ihr und betrachtete den Rest des Bildes. Zuerst hielt ich die reflektierende Oberfläche, auf welcher der Mann stand, für einen glatt polierten Steinboden – dann aber begriff ich, dass es sich um stillstehendes Wasser handelte. Die Umgebung des Mannes hüllte sich in Nebelschwaden, und nur einige auf surreale Art und Weise im Wasser treibende Nadelbäume füllten die Szenerie. Was soll das bedeuten? Ich wandte einen Moment auf, um den kunstvollen Pinselstrich des Malers zu bewundern. Obgleich sie nur Ölfarbenbilder waren, wirkten die Kunstwerke eigenartig lebendig. Wie viele Künstler mochte es weltweit geben, die über ein solches Können verfügten? Nicht viele. Auch dieses Gemälde war mit einem Schriftzug versehen worden. Der Limbus. Ich runzelte die Stirn. Als Limbus verstanden Arkanisten einen Zustand der geistigen Umnachtung, der eintrat, wenn man seine mentalen Reserven überstrapazierte. Ich dachte einen Moment über die Bedeutung des Titels nach, aber schüttelte dann den Kopf und wandte mich dem zweiten Bild zu.

Die Bilder waren kunstvoll miteinander verbunden. Das zweite Bild entwuchs aus den Nebelschwaden des ersten und zeigte den Himmel, wie aus der Perspektive eines Vogels. Die Wolken waren dunkel wie aufsteigender Qualm und vom blassroten Horizont in ein blutiges Licht getaucht. Die Silhouette eines Mannes war in ihrer Mitte zu erkennen: an seidenen Fäden hing sie vom Himmel herab wie die Marionette eines Sonnengottes, und ihr Mund war wie im Schrei weit aufgerissen. Auch dieses Bild trug einen kryptischen Titel: Die Waschung. Der Name löste eine Erinnerung in mir aus. Hatte ich nicht einmal von einem Ritual dieses Namens gelesen? Ja … bestätigte ich mir meinen eigenen Gedanken, die Nomadenreise der Qyraner, wenn sie losziehen, um den Roten Berg zu finden. Bevor sie aufbrechen, müssen sie eine symbolische Reinigung in einem ihrer heiligen Flüsse vornehmen, angeblich, um ihr altes Ich abzulegen. Ein Neuanfang also, eine spirituelle Reinigung. Konnte dies die Bedeutung des Bildes sein?

Ich sah mich kurz um. Noch immer war ich allein. Die nächste Malerei – auf dieselbe kunstvolle Art und Weise mit dem Vorgänger verbunden – zeigte den nackten Mann aus dem ersten Gemälde, wie er sich durchnässt und voller Schmutz an Land zog, vermutlich aus dem nebelverhangenen Meer. Der Titel des Bildes war Der erste Stein. Die Sonne schien dem Mann von der Insel auf den Körper, und ihr Licht bildete zugleich den Grundstein für das nächste Gemälde, das in mir einen Anflug von Scham auslöste. Es zeigte den Gestrandeten – nun athletischer und wohlgenährter als im vorherigen Bild – beim Liebesspiel mit einer Frau. Sein Körper war dem Glanz der Haut nach zu urteilen in Schweiß getränkt, und rote Blutspritzer glitzerten auf seiner Brust. Er trug eine Maske aus Stoff, unter der sich ein diabolisches Grinsen erkennen ließ. Die Frau, mit welcher der Mann verkehrte, hatte ihm den Rücken zugewandt und war ungewöhnlich stilisiert. Ihr geflochtenes Haar war lang und floss ihren Rücken hinab wie ein Sturzbach schwarzer Perlen, und aus ihrer Stirn entwuchsen zwei Hörner; ihr Gesicht war nicht zu erkennen. Die Umgebung, in der sich das Paar befand, ähnelte einem Schlachthof. Blutlachen schillerten am Boden, und eine Leiche lag zu den Füßen des Mannes. Ich ging in die Knie und entzifferte den Namen des Bildes: Die erste Glut.

Erst mit dem letzten Wort fiel es mir wie Schuppen von den Augen.

Ja, Jaél … Das ist ein Werdegang, schoss es mir durch den Kopf. Eine Wandlung.

Ich wusste nicht, ob es Zufall oder Absicht war, dass der Mann des ersten Gemäldes ausgerechnet in Nebelschwaden wandelte. Aber es bestand kein Zweifel: Es handelte sich um mich, vor meiner Vision, als ich mich in der grauen Tristesse befand, die ich meine Heimat genannt hatte, stets wissend, dass mein Leben weit hinter meiner wahren Bestimmung hinterherhinkte. Im „Limbus“. Die „Waschung“ bezeichnete nichts Geringeres als die Vision, die mich aus meinem Leben gerissen hatte, der „erste Stein“ meine Flucht aus Nebelhaim. Und die „erste Glut“ – ein kalter Schauer fuhr mir über den Rücken – war meine erste Tötung.

Ich sah mir das nächste Bild an. Es zeigte den Mann vor einem verwitterten Springbrunnen sitzend, der sich in einem von Ranken überwucherten Tempelhof befand. Anstelle der Stoffmaske trug der Mann nun eine aus hauchdünnem Metall, unter der seltsamerweise immer noch sein Gesicht zu erkennen war. An seiner Seite saß eine Frau mit roten, feurigen Haaren. Das Bild nannte sich Die Gefährtin, und sein Sinn erschloss sich mir sofort. Zwar war Qalian weder eine Frau noch hatten wir unser erstes Gespräch in einer schönen Ruine gehabt, aber nichtsdestotrotz war er es gewesen, der mich aus dem Chaos geholt hatte, in das mich meine erste Begegnung mit dem Feuer gestürzt hatte. Dann war all das kein Zufall. Hatte Qalian gewusst, dass ich ein potenzieller Bruder war, dass das Feuer in meinen Adern floss? Sein neugieriger Blick, als ich die Schenke betreten hatte, sprach dafür. Wenn die bisherigen Gemälde meinen Werdegang hierher bezeichnen, dann werden die letzten mir vielleicht den Weg durch diese Prüfung weisen!

Beflügelt von dem Gedanken fuhr ich mit meiner Begutachtung fort. Ich ahnte bereits, was das nächste Gemälde zeigen würde, und wurde in meiner Erwartung bestätigt. Es trug den Namen Der Flammenregen, und es zeigte den unbekannten Mann und die rothaarige Frau auf einem Schlachtfeld. Seine Maske wirkte nun bereits robuster, solider, und der düstere, gewitterschwangere Himmel, nur von drei sterbenden Sonnenstrahlen durchbrochen, erweckte das Bild mit einer kataklystischen Macht zum Leben. Der Mann und die Frau standen Rücken an Rücken. Das Gesicht der Frau strotzte nur so von Kampfeswut und Lust. Auf dem Boden lagen blutüberströmte Leichen, deren Gesichter asymmetrisch und brauenlos waren. Das Bild symbolisierte, daran bestand kein Zweifel, den Morgen in der Unterstadt. Qalians Lektion. Das nächste Bild zeigte die Frau, wie sie dem maskierten Mann ihre Hand reichte. Hätte ich nicht um die vorhergegangenen Bilder gewusst und wäre der unheimliche Malstil nicht gewesen, wäre es mir vermutlich kitschig erschienen. Die Zeit der Rast. Mein Herz pochte. Hier endete die Zeitgleichheit zwischen mir und den Bildern. Nach der „Zeit der Rast“, die vermutlich meine „Lehre“ bei Qalian beschrieb, hatte man mich zur Prüfung gebracht. Es blieben noch zwei Wandgemälde, und in einem der beiden musste sich des Rätsels Lösung befinden. Meine Augen wurden schwer und ich zitterte leicht, als ich schließlich das nächste Bild in Augenschein nahm, das sich bisher im Schatten der Säulen versteckt hatte. Die Gegenwart.

Der Mann auf dem Gemälde befand sich in einem runden Raum. Sein Gesicht war von einer noch massiveren Stahlmaske bedeckt, aber im Kerzenlicht der Halle war klar zu erkennen, dass das Metall nicht vollkommen war. Nein … Das Gesicht des Mannes darunter war noch viel zu gut erkennbar, und es sah schwach aus. Ich fühlte eine Woge des Ekels in mir aufsteigen, die ich mir nicht erklären konnte. Der nackte Mann kniete in der Mitte der großen Halle. Sein Kopf war elegisch zur Decke gewandt, und seine Hände hingen kraftlos an den Seiten herab. Sein Körper war glatt und glänzte, und braune Schmutzflecken bedeckten seine Haut. Was …?

Panik ergriff mich, als ich verstand.

Ich starrte auf das Gemälde. Zuerst hatte ich nicht glauben wollen, was meine Augen da sahen. Als ich jedoch näher herangetreten war, ließ die Genauigkeit des Pinselschwungs keine Zweifel mehr zu. Ich hatte mich bei meinem ersten Blick getäuscht.

Die Flecken, die den Körper des Mannes bedeckten, waren nicht braun, sondern rot. Und sie entstammten weder Schlamm noch Ruß. Sondern Blut.

Ein horizontaler Schnitt verlief über der Kehle des Mannes, und Blut floss an ihm herab. Erst jetzt erkannte ich den kleinen Gegenstand, der links neben ihm lag, zweifelsohne seiner kraftlosen Hand entglitten. Es war ein Dolch.

Instinktiv wandte ich den Blick ab und trat einige Schritte zurück. Nein, konstatierte ich im Gedanken. Nein. Es bedurfte keiner weiteren Reflektionen, um zu begreifen, was die Aussage der Malerei war. Man erwartete, dass ich mich tötete.

Es wird schwer zu sein, begreiflich zu machen, was ich in jenem Moment fühlte. Alles in mir sträubte sich dagegen, mich wie mein ölfarbenes Alter Ego zu entkleiden – aber dennoch tat ich es nach einer Minute des Haderns. Ich musste. Um keinen Preis der Welt wollte ich in der Mitte des Raumes niederknien, gleich einem Gläubigen vor der Segnung – aber ich kniete nieder. Und in keinem Moment meines Lebens hatte ich größere Furcht empfunden denn in jenem, als ich meinen Dolch zu meiner Kehle hob. Ich hörte ein widerliches, reißendes Geräusch vor meinem geistigen Ohr, gespeist von der Erfahrung meiner ersten Tötung. Ich fühlte warmes Blut auf meiner Brust, das nicht existierte. Nein … kein Mann, der bei Verstand war, hätte sich in jenem Moment das Messer an die Kehle gelegt, die Hand zitternd, der Körper voller stechendem Schweiß, die Augen geschlossen wie ein Kind in einem Alptraum, das hofft zu erwachen. Aber Männer von Verstand wären der Vision nicht gefolgt. Sie hätten ihre Strafe in jenem Stall akzeptiert und wären mit ein paar Prellungen und Brüchen davongezogen. Und es waren keine Männer von Verstand, die die Schwarze Waage erwählte.

Ich schloss die Augen und festigte den Griff meiner zitternden Hand. Nichts wollte ich in jenem Moment mehr als aus dem aberwitzigen Albtraum zu erwachen. Den kalten Stahl fallen lassen, aufstehen, irgendwie entkommen, irgendwie ...

Grenzenlosigkeit ...

Ich schnitt.