Enderal:Der Schlächter von Ark, Buch 9: Der Aufstieg

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Kapitel 9: Der Aufstieg

Das erste, was ich fühlte, war Erstaunen. Ich empfand keine Schmerzen, obwohl ich klar und deutlich den Schnitt an meinem Hals spürte. Nein, vielmehr machte sich in mir eine Art nüchterne Gewissheit klar. Ich hatte mich getötet. Ich schloss meine Augen und wartete. Der Schmerz explodierte nach genau siebenundzwanzig Sekunden. Ich versuchte zu schreien, aber das Ergebnis war ein ersticktes Röcheln. Ich brach zusammen und rollte mich auf die Seite, die Knie zur Brust gezogen wie ein frierendes Kind. Nach sechsundneunzig Sekunden war mein Sichtfeld zu einer dunkelrot gefärbten, schmutzigen Glasscheibe geworden, und mein Körper war erschlafft. Die rote Pfütze unter mir war auf Mannesgröße angewachsen, und ich begann mich zu fragen, ob die etlichen Tiere, die mein Ziehvater oder seine Zulieferer für all die schönen Felle getötet hatten, genauso gefühlt hatten. Nach einhundertundfünf Sekunden fühlte ich, wie mich das zerrinnende Leben in eine wohlige Müdigkeit hinabzog. Wie schön es doch wäre, einfach nur die Augen zu schließen und zu schlafen, für immer, für immer Frieden und Ruhe, und … Nach der einhundertfünfzigsten Sekunde hörte ich auf zu zählen. Und erwachte.

Die erste Veränderung, die mir auffiel, als ich erwachte, war eine, die sich schwer beschreiben lässt. Zwar war der Raum, in dem ich mich befand, oberflächlich derselbe, aber ich spürte, dass etwas nicht stimmte; gleich einem entstellten Mann, der sein wahres Gesicht unter einer Maske zu verbergen versucht. Die zweite Veränderung war physischer Natur, und ich spürte sie, als ich aus reinem Instinkt meine Rechte an die Brust hielt. Mein Herz schlug nicht mehr. Ungläubig fuhr ich mit meinem Finger den Hals entlang. Der Schnitt war noch da, aber der Blutstrom versiegt. Meine Sicht hatte sich wieder normalisiert, und mein Verstand war klar. Die dritte bemerkte ich, als ich mich umsah. Die Gemälde waren zum Leben erwacht. Der Wolkennebel in „Die Waschung“ verdichtete und verdünnte sich, und ölfarbene Blitze zuckten am Horizont, nur um im nächsten Moment wieder zu milchigem Grau zu verschmelzen. Der Mann selbst schwebte auf und ab, gleich einer vergessenen Wasserleiche im Ozean. Unfähig, das Geschehene zu begreifen, passierte mein Blick den „ersten Stein“ und die „erste Glut“. Dasselbe. Alle Gemälde bewegten sich. Die Sonnenstrahlen aus der „Zeit der Rast“ blendeten mich, und dickes Blut quoll langsam und gemächlich aus der Kehle des Mannes im Gemälde der Prüfung. Einen Augenblick lang geschah nichts. Dann ertönte ein Geräusch gleich zerreißenden Stoffes, und im selben Moment zuckten die maskierten Gesichter der Ölfiguren in meine Richtung. Allesamt starrten sie mich an, und obgleich ihre unterschiedlichen Masken ihre Augen zumindest teilweise verdeckten, spürte ich ihren Blick auf mir lasten wie eine dunkle Macht. Obwohl ich Furcht hätte empfinden sollen, spürte ich stattdessen, wie das Feuer in mir wieder begann zu prickeln, zu erwachen. Sie wollen mir nichts Böses, schoss es mir durch den Kopf. Sie wollen mich leiten. Ich beobachtete, wie die Ölfiguren ihren Gemälden entstiegen. Flüssige Farbe tropfte an ihnen hinab. Einen Moment lang standen sie still, dann begannen sie, im perfekten Gleichschritt auf mich zuzugehen. Ihre Fußstapfen waren lautlos, und nur das Herabfallen der Farbtropfen erzeugte ein surreales Geräusch, das ich nicht zu beschreiben vermag. Mit jedem Schritt, den sie mir näher kamen, verstärkte sich das Prickeln. Dann stellten sie sich kreisrund um mich herum auf. Wieder standen sie still. Dann hoben sie allesamt ihre Rechte und führten sie zum Gesicht. Langsam und beharrlich, wie um kein Detail jener logikverneinenden Szene zu verpassen, ließ ich meinen Blick von Gestalt zu Gestalt schweifen, und mit jedem Anblick durchlebte ich wechselnde Emotionen. Den hageren Mann aus dem „Limbus“ verabscheute ich. Wie schwach er doch war, wie erbärmlich. Ein Gefühl der Hoffnung keimte in mir auf, als ich den Mann aus der „ersten Glut“ sah. Den Mann aus der „Wiedergeburt“, dessen Gemälde ich als erstes erblickt hatte, bewunderte ich. Er versprühte ein Gefühl von Erhabenheit und Macht, so wie ich es nie zuvor empfunden hatte. Nichts würde den kalten Stahl seiner Maske durchdringen können. Nichts. Er hatte die Grenze überschritten. Er war vollkommen. Das Feuer erfüllte nun jeden Teil meines Körpers, meine Arme, meine Beine, meine Brust und meine Lenden. Du hast den richtigen Weg gewählt, hörte ich es in mir flüstern. Nun lass dich fallen. Ich seufzte, gleich einem Mann, der seine Geliebte nach Jahren der Ferne endlich wieder in den Armen halten darf. Dann nickte ich den Ölfiguren zu. Sie nahmen ihre Masken ab, und ich schrie.


[Hier waren im Originalmanuskript einige Seiten fein säuberlich herausgetrennt worden.]


… Augen wieder aufschlug, splitternackt, jedoch nicht mehr blutend auf dem Boden der großen, runden Halle liegend, war der Steinboden warm. Blitzartig fuhr meine Hand zur Kehle. Die Wunde war verschwunden, obgleich das Blut immer noch auf meiner Brust, meinem Hals, und dem Boden zu sehen war. Halb erleichtert, halb schockiert riss ich den Mund auf und schnappte nach Luft. Dann streckte ich alle viere von mir und starrte in Richtung der Decke. Ein warmes, loderndes Gefühl erfüllte meinen Körper. Ich hatte die Prüfung bestanden, das wusste ich ebenso sehr, wie mir klar war, dass mich das, was mich unter den Masken meiner ölfarbenen Ebenbilder angestarrt hatte, bis ans Ende meiner Tage verfolgen würde. Ein ungläubiges Krächzen, das einen Lacher hätte darstellen sollen, entwich meiner Kehle. Ich hatte es geschafft. Es gesehen. Und war nun ein Bruder der Waage. Ein Machtgefühl loderte in mir auf, als ich jenen letzten Gedanken dachte. Anders als die Macht der Arkanisten, die aus Eventualitäten Wahrheit werden ließen, anders als die der Schamanen, die durch ihre Gesänge Verbindungen zur Geisterwelt aufbauten. Die Magie der Waage war anders, urtümlicher, unbefleckter. Mühsam drehte ich meinen Kopf zur Seite und warf einen Blick auf die Gemälde. Der maskierte Mann in ihnen war verschwunden. Ich wunderte mich nicht. Erst als ich mich aufrichtete, merkte ich, wie eine gähnende Müdigkeit von mir Besitz ergriff. Ich bekleidete mich und nahm meinen Dolch vom Boden. Das Blut an seiner Klinge war noch frisch. Ich bedachte ihn mit einem langen Blick. Dann wischte ich ihn an meiner Hose ab und steckte ihn in die Scheide zurück. Wenige Augenblicke darauf verließ ich die Halle. Wie vollkommen ich mich an jenem Tag doch fühlte.

Meine Chronik nähert sich dem Ende, und ich möchte meine Zeit nicht in unnötigen Schilderungen verlieren. Die Zeit verrinnt schneller, als diese Tinte auf dem Pergament vertrocknet, und die Erschöpfung der letzten Tage erdrückt mich. Ärger erfüllt mich beim Wiederlesen der letzten Seite. Wie unpassend mir meine Schilderungen doch erscheinen, wie brüchig meine Gedankengänge. Mir bleibt nicht mehr übrig als zu hoffen, dass sie genügen. Lasst mich den letzten Abschnitt mit einer Richtigstellung beginnen: Entgegen der Behauptungen mancher bin ich kein prinzipienloser Mörder. Alles, was ich bisher geschrieben habe, entspricht der Wahrheit, so skurril sie auch klingen mag. Die Schwarze Waage hatte mich erwählt, schon lange bevor ich es wusste. Sie hatte mich gefunden, hatte mich meine Bestimmung kosten lassen und mich zu einem der ihren gemacht. Und wenn es einen Punkt gab, in dem die Waage unfehlbar war, dann war es folgender: Alle, die sie töten ließ, waren verdorben. Sie hatten gesündigt, sich Verbrechen schuldig gemacht, sie waren böse - nennt es, wie Ihr wollt. Anfangs überzeugte ich mich noch vor jeder Tötung eigens davon - später genügten mir die oberflächlichen Beweise, die ich hatte. Kein einziges Mal hatte die Waage falsch gelegen, so unscheinbar auch meine Ziele gewesen sein mochten. Sie alle waren Sünder. Vergeudet also keine Zeit mit der Frage, ob meine Opfer unschuldig waren - denn das waren sie nicht. Fragt Euch viel mehr: War es richtig, sie zu töten? Damals dachte ich, das wäre es. Die Lehren der Waage leiteten mich, und es war so einfach: Wir haben die Wahl. Wir entscheiden, ob wir die Dämonen in uns lassen, indem wir uns der Sünde hingeben. Wir entscheiden uns dazu, verdorben zu werden. Und wir, die Erwählten der Waage, bestraften für die Schwäche. Nicht alle, aber genug. Genug, um die Unschuldigen zu schützen, Furcht in die Herzen der Sündiger zu treiben und die Welt vor der endgültigen Verderbnis zu bewahren. Mit einem müden Lächeln erinnere ich mich heute an den Stolz, den ich empfand, als ich Qalian und den anderen entgegentrat. Nicht viele waren außer ihm anwesend gewesen – vielleicht ein Dutzend, vielleicht weniger. Niemand hatte applaudiert oder gejubelt, und es wäre unnötig gewesen. Die Männer und Frauen, die mich empfingen, wussten um das, was ich getan und gesehen hatte. Ich war dennoch überrascht gewesen, als mir Qalian schließlich verkündete, dass es Zeit sei, nach Ark zurückzukehren. Nur einem kurzen Händedruck tauschte ich mit denen aus, die ebenfalls das Feuer in sich trugen - dann, noch bevor ich mich versehen hatte, war ich wieder im abgedunkelten Inneren der Kutsche, verwirrt, erschöpft, aber voller Stolz. Auf meine Frage hin, weshalb wir so schnell wieder hatten aufbrechen müssen, antwortete er mir nicht. Selbst heute sind mir viele Strukturen der Waage noch ein Rätsel, und mit jeder Reflektion wird mir klarer, wie wenig ich doch tatsächlich wusste. Wie auch? Es vergingen ja kaum sechs Monde, bis ich die Waage auch schon wieder verriet, und es wäre naiv gewesen, zu glauben, dass das Überstehen der Prüfung alles war, was einen Träger des Feuers ausmacht. Nein … es gab und gibt so viel mehr. Hierarchien, Rituale, Geschichten … und keine davon werde ich jemals kennenlernen.

In Ark ging alles sehr schnell. Qalian wies mich in die Kunst des Schwertkampfes ein und lehrte mich die Wichtigkeit regelmäßiger Meditation. Und es dauerte nicht lange, da spürte ich bereits ihre Wirksamkeit. Mit jedem Morgen fühlte ich mich stärker, kräftiger und wacher. Ich belächelte die Menschen, die mich umgaben, mit ihren plumpen Bewegungen und ihrem trägen Blick. Wie klar doch nun alles um mich herum war! Es dauerte nur drei Tage, bis mir Qalian ein versiegeltes Dokument überreichte, in dem mir meine erste Tötung im Namen der Waage befohlen wurde. Ich würde gerne behaupten, dass ich mich noch an jedes meiner Opfer erinnere, aber ich müsste lügen: Ich tue es nicht. Die einzigen Erinnerungen, die nie verblassen, sind die des Nektars. Der Ablauf war immer derselbe: Nachdem ich den Namen meines Opfers erhalten hatte, stellte ich Nachforschungen an und erarbeitete meinen Plan. Was auch immer ich an Ressourcen dafür benötigte - Gold, Waffen, Gift -, die schwarze Waage stellte sie mir, wenn ich in einem Brief darum bat, den ich dem vermummten Kutscher übergab. War ich mit meinem Opfer allein, exekutierte ich es und konsumierte seine Erinnerungen. Dann verwischte ich meine Spuren. Viele Menschen sprechen voll morbider Bewunderung über meine „Perfidität“ und die „Intelligenz meiner Pläne“, da es niemanden gelang, mich zu fassen. Aber weder halte ich mich für überdurchschnittlich intelligent noch für durchtrieben. Ja, ich schien eine gewisse Begabung für das Töten zu haben - aber ich machte zahllose Fehler, die einen jeden anderen das Leben gekostet hätten. Es war die Waage, die mich beschützte. Mit jeder Tötung, die ich erfolgreich vollzog, trat auch Qalian mehr und mehr aus meinem Leben. Er war ein Begleiter, ein Mentor, und seine Pflicht für mich war getan. Anfangs bedauerte ich es und vermisste seine Gesellschaft, dann aber begann ich irgendwann die Stille und das Alleinsein zu genießen. Ich hatte genug Gold, um mir alle irdischen Wünsche zu erfüllen, und ich war überrascht, wie schnell Wein und käufliche Liebe an Geschmack für mich verloren. Im Herbst des Jahres 6291, vier Monate nach meiner Prüfung, verbrachte ich die Abende meist entweder allein im Zimmer einer Herberge oder mit langen Spaziergängen durch die Natur oder die Stadt. Bei Letzteren wendete ich viel Zeit dafür auf, Menschen zu beobachten. Wie wenig Beachtung man mir doch schenke, erinnerte mein unscheinbares, hässliches Äußeres doch niemanden an die illusionären Vorstellungen, die man von einem gedungenen Mörder hatte. - Lange, schwarze Kapuze, ins Gesicht gezogen, maliziöses Lächeln auf den Lippen, groß und athletisch. Ich genoss die Anonymität und die Rolle, die sie mir zuspielte. Ich sah mich als stillen Wanderer, als Diener der Gerechtigkeit, der die Verdorbenen aus dem Leben fegt wie der Sommerwind verdorrte Blätter. Mein Los war kein Leichtes – nie wieder sollte ich den weltlichen Träumen frönen können, niemals würde ich einen Menschen wahrhaft lieben können. Aber ich war Teil von etwas, ohne das unsere Welt schon lange den Abgrund hinab gefallen wäre, zu verpestet von all den sündhaften Menschen.

Die anderen waren verblendet. Ich sah. Nie hätte ich geahnt, wie bald sich alles ändern würde.

Der Tag begann wie jeder andere auch. Ich erwachte vor Sonnenaufgang, mein Schlaf war traumlos gewesen, und ich fühlte mich angenehm ruhig, als ich aufstand. Ich hatte mich in einer Taverne unweit der Stadttore einquartiert. Die Wogen, die meine letzte Tötung geschlagen hatte, hatten sich bereits wieder geglättet, und niemand hatte mich nach Pfad und Herkunft gefragt, als ich mit meinem prall gefüllten Groschenbeutel die Zimmerkosten für drei Wochen im Voraus bezahlt hatte. Nachdenklich ließ ich meinen Blick durch das gemütlich eingerichtete Zimmer schweifen. Auf einer erloschenen Feuerstelle kam er zum Stillstand. Ich gähnte und rieb mir die Augen. Wann es wohl wieder so weit ist? Noch lag der Schnee hoch auf den Wipfeln der Bäume, aber die klare Sonne begann bereits ihr Tauwerk. Bald kommt der Frühling, dachte ich, und der Gedanke stimmte mich melancholisch. Ich stellte mir vor, wie Kinder jubelnd über die blühenden Krokuswiesen tollen würden und die Arker Handwerker nach einem Tag des Schaffens unter den sattgrünen Eichenbäumen des Kneipengartens zusammenkämen. Das erste Mal seit Langem wünschte ich mir Gesellschaft herbei. Ich vollzog meine Meditation, entfachte ein Feuer und nahm eine karge Speise zu mir. Erst als ich meine Unterkunft für einen Spaziergang verlassen wollte, bemerkte ich das Dokument, das von einer blassroten Schlaufe zusammengehalten unter meinem Türspalt lag. Ich erkannte es sofort: Es gehörte der schwarzen Waage. Mit einem nach dem Trübsinn willkommenem Gefühl der Vorfreude ging ich in die Knie, nahm das Pergament und rollte es auf. Ich las es Zeichen für Zeichen und wiederholte diesen Vorgang, als ich am Ende angelangt war. Dann warf ich es in das Feuer. Ein Unbehagen, das ich mir bis heute nicht erklären kann, breitete sich in meinem Körper aus, als sich das Pergament in Asche verwandelte. Es war anders als das flaue Angstgefühl, das mich aus meinem alten Leben verjagt hatte, und das, wie ich gemerkt hatte, immer wieder dann auftrat, wenn ich meine Taten in Frage stellte - aber dennoch trug es dieselbe Farbe. Ich ignorierte es, zündete mir eine Kerze an und setzte mich an den kleinen Holztisch vor dem Fenster, um meinen Plan zu schmieden. Drei Tage später verließ ich auf meinem frisch gekauften Pferd die Herberge. Zwar nahte der Frühling, aber dennoch waren die Tage nach wie vor kurz, und ich baute darauf, noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder in Ark zu sein, eine Rechnung, die aufging. Ich gab mein Pferd dem Stallburschen der gut besuchten Taverne, schnippte ihm einen Groschen zu und machte mich auf den Weg in den Schankraum. Auf meinem Zimmer angekommen, legte ich die Werkzeuge, die ich für die bevorstehende Läuterung gewählt hatte, auf dem Bett nebeneinander auf, gleich einem Messerschmied auf seinem Marktstand. Mein Ziel - ein junger Mann - würde leichte Beute sein, das spürte ich, und somit blieb mir die freie Wahl. Ich entschied mich für meinen langen Dolch, mit dem ich in dem Bordell Qalian zur Seite gestanden hatte. Dann ging ich meinen Plan in Gedanken durch. Um kurz vor Mitternacht verließ ich den „Tanzenden Nomaden“. Die Nacht war sternenklar und verhältnismäßig warm, was sich in herabrutschendem Dachschnee äußerte, der immer wieder mit einem stumpfen Geräusch zu Boden fiel. Mein Ziel befand sich dem Dokument zufolge in einem edlen Haus in einer der teuersten Straßen der Stadt. Es sind immer die Reichen, die meinen, über allen anderen zu stehen, dachte ich bitterlich, als ich mich dem Tor zum Adelsviertel näherte. Ich zeigte den Wachen meine Papiere, und sie ließen mich mit einem Nicken gewähren. Wenn sie wüssten. Es dauerte nicht lange, da hatte ich mein Ziel erreicht. Wie alle Häuser im Adelsviertel war es beeindruckend. Es war von hohen Mauern umgeben, und ein runder Steinbogen markierte das Tor. Das Fallgatter war verschlossen, aber offenbarte den Blick auf eine Allee, die zum Eingang des großen Hauses führte. Zwei Türme ragten am Ostund Westflügel des Anwesens in die Höhe und gaben ihm eine schlossartige Anmutung. Wäre ich vor meinem neuen Leben noch beim Gedanken an die Kosten eines solchen Prunkbaus in die Knie gegangen, musterte ich es diesmal nur kühl. Zwar konnte ich unmittelbar am Eingang keinen Wachmann erkennen, aber das flackernde Licht aus dem Pförtnerhaus ließ darauf schließen, dass es besetzt war. Darauf muss ich bauen. Ich wandte mich ab und umrundete das Anwesen zweimal. Nach hinten war es durch die Steinwand des Königsfelsen geschützt, und seitlich grenzte es an zwei andere Edelmannshäuser an. An der Westseite der Mauer, nur ein paar Armweit von dem Punkt entfernt, an dem sie mit dem Stein des Felsens verschmolz, fand ich, was ich suchte. Ich nahm einen tiefen Atemzug. Endlich. Ein Kribbeln machte sich in meinem Magen breit, und die Asche begann zu glimmen. Der Platz, den ich für den Beginn meines Plans erwählt hatte, war eine schöne Sitzbank gleich am Ufer des Malphasflusses, der erhaben durch die nächtliche Szenerie plätscherte. Von dort aus hatte ich einen klaren Blick durch das Gittertor zum Anwesen des Besessenen. Es war kalt, aber ich fror nicht. Ein grauhaariger Mann und eine junge Frau passierten mich und lächelten mir zu. Ich lächelte zurück. Dann ging die Baumallee, die zum Anwesen führte mit einem lauten Knall in Flammen auf. Ein kalter Schauer für meinen Rücken herab und Schweiß brach auf meiner Stirn aus. Die Reaktionen, auf die ich spekuliert hatte, ließen nicht lange auf sich warten. Es war das Paar, das zuerst auf das Feuer aufmerksam wurde. Die junge Frau stieß einen schrillen Schrei aus und klammerte sich an ihren Liebhaber, und es dauerte nicht lange, bis das Geräusch herbeieilender Stiefel auf dem Pflasterstein der Stadt zu hören war. Rauchgeruch erfüllte die Luft, und ich konnte mich eines stillen Lächelns nicht erwehren. Dann setzte auch ich eine panische Miene auf und rannte - scheinbar Hals über Kopf fliehend - davon. Anders als die anderen jedoch lief ich weder vom Feuer davon, noch direkt zum Anwesen, dessen Türen, wie ich zufrieden feststellte, bereits aufgeschwungen waren. Zwei Gestalten traten daraus hervor. Auch aus dem beleuchteten Pförtnerhaus kam nun eine Wache hervor, deren Blick hilflos zwischen den herannahenden Gardisten und den lichterloh brennenden Bäumen wechselte, die wie Fackeln auf einem Trauermarsch das Dunkel der Nacht erhellten. Niemandem fiel auf, dass sich das Feuer nicht ausbreitete. Ich hatte keinerlei Absicht, einen Flächenbrand auszulösen, zumal dabei Unschuldige zu Schaden kommen würden. Mein Interesse galt einzig und allein dem Mann, der heute Abend sterben würde. Der Ausdruck von Panik, den ich für die Glaubwürdigkeit meiner Flucht auf mein Gesicht gezeichnet hatte, verflog in dem Moment, in dem ich in das Dunkel der Seitengasse neben dem Anwesen eintauchte. Ich verlangsamte meinen Schritt und griff im Laufen zu meiner Seitentasche, aus der ich einen gusseisernen Haken hervorholte. Vor dem von mir auserkorenen Mauerteil kam ich zum Stillstand. Die Mauer überragte mich um gute zwei Mannesgrößen, aber sie war alt und rissig. Ich tastete nach Hohlräumen, fand sie, und zog mich mithilfe des Hakens an ihnen hoch. Oben angekommen blieb ich bäuchlings liegen und analysierte die Situation. Noch brannten die Bäume lichterloh, und der Pförtner hatte das Tor geöffnet, durch das just als ich hinsah zwei Gardisten eilten, die vor dem Brand jedoch stehen blieben und hilflos in der Gegend herumsahen. Der Pförtner schrie ihnen etwas zu, das ich nicht verstand. Auch zu den zwei aus dem Anwesen hervorgetretenen Figuren hatten sich vier weitere dazugesellt, vermutlich Dienstpersonal. Perfekt. Ich ließ mich hinabgleiten und ging hinter einem Busch in Deckung. Jetzt war die Zeit gekommen. Ich schloss erneut die Augen und lauschte dem Lodern in mir. Es war zufrieden, und spürte, genau wie ich, den nahenden Nektar. „Bald“, murmelte ich. Dann richtete ich meinen Blick auf das Heckenwerk, das unmittelbar vor dem Haus gepflanzt worden war. Ich spürte ein gieriges, bejahendes Kribbeln. Ich spannte meine Muskeln an, und spürte, wie es meinen Körper emporschoss, durch meine Rippen, meinen Hals, meinen Schädel, aus meinen Augen. Ich keuchte und taumelte kurz. Einen Augenblick geschah nichts. Dann fingen die Hecken Feuer. Ich seufzte und lächelte, wie um mich selbst zu beglückwünschen. Wären die Hecken ebenso explosionsartig entbrannt wie die Bäume, hätte das eine oder andere geschulte Auge die Magie dahinter vielleicht erkannt. So wirkte es zwar in Anbetracht des kalten Wetters und des Schnees nach wie vor unnatürlich, aber nicht sofort wie Hexenwerk. Es war ein junger Mann, der die vermeintliche Ausbreitung des Feuers zuerst bemerkte und sie mit einem äußerst unmännlichen Aufschrei quittierte. Mittlerweile waren mehrere Gardisten herangeeilt, und zwei davon zogen ein karrenartiges Gefährt hinter sich her. Eine Feuerkutsche. Es war eine jener Sternlingstüfteleien, die ich nie zu verstehen gelernt hatte und die auf stetiges Kurbeldrehen hin aus einem großen aus Bronze gefertigten Wasserfass einen gebündelten Strahl entstehen lassen konnte. Ich nahm ihr Erscheinen als Anlass zu Eile. Vorher noch unschlüssig, waren die ersten Einwohner nun durch die grell brennende Allee zum Tor hin geflohen. Stummen Schrittes eilte ich zur Seitenwand des großen Hauses und presste mich mit dem Rücken dagegen. Ich suchte die Hinterseite des Hauses nach einer Lagertür ab. Jedes größere Anwesen besaß eine solche, damit die Mehlsäcke, das Fleisch und das Gemüse für die Küche nicht durch den Haupteingang hineingetragen werden mussten. Während ich mich an der Wand entlang schlich, hörte ich, wie mit einem lauten Zischen der Wasserstrahl der Feuerkutsche in die kalte Nacht schoss. Ich muss mich beeilen, dachte ich, aber ohne Nervosität oder Panik, wie sie mich früher ereilt hätte. Wenige Minuten später hatte ich gefunden, wonach ich suchte. Ich hielt meine Hand auf das Schloss, beschwor das Feuer und beobachtete, wie das Schloss in sich zusammenschmolz. Dann öffnete ich behutsam die Tür und glitt ins Innere. Der Lagerraum roch nach Pökelfleisch, Zwiebeln und Alkohol, und es dauerte nicht lange, bis ich zwischen drei Kisten ein geeignetes Versteck gefunden hatte. Ich lächelte, holte tief Luft und löschte das Feuer. Nun war es nur noch eine Frage der Geduld.

Ich schätze, dass es drei Stunden nach Mitternacht war, als ich entschied, dass die Zeit gekommen war. Mein Plan war perfekt gewesen, und jeder hatte sich genau so verhalten, wie ich es vorhergesehen hatte - das wusste ich, obgleich mir nicht mehr als ein paar Geräusche zur Beurteilung dessen geblieben waren. Wie erwartet hatte sich die Panik gelegt, als das Feuer langsam wieder zu erlöschen begonnen hatte. Ich schmunzelte bei dem Gedanken an den Gesichtsausdruck der Gardisten, als die lichterloh brennenden Baumkronen ganz gleich der Menge des Wassers, das auf sie geschossen wurde, nicht nachgeben hatten wollen. Sie hätten löschen können, bis der Schwarze Wächter erwacht, dachte ich. Erst auf meinen Befehl hin hatten sich die Flammen begonnen zurückzuziehen, langsam und widerspenstig, gleich einem Wolf, der dazu genötigt wird, ein just gerissenes Vieh auf der Lichtung liegen zu lassen, ohne sich an seinem Fleisch zu laben. Drei Stunden hatte es gedauert, bis auch die letzten Stimmen von außerhalb verklungen waren. Dann hatte sich die Tür mehrmals geöffnet und geschlossen, und unter den wütenden Schreien eines Mannes - bei dem es sich mit Sicherheit um mein Ziel handelte - war wieder Ruhe eingekehrt. Zweifelsohne würde er morgen nach einem Schuldigen suchen, dachte ich bitterlich. Und er würde fündig werden. Ich rief mir das Dokument vor Augen. Mitumial Dal’Joul, vierundzwanzig Winter. Und Mörder. Zwar hatten die Dämonen laut den Aufzeichnungen der Waage erst vor wenigen Monden von ihm Besitz ergriffen, aber trotzdem hatten sie bereits mehr Schaden angerichtet als bei anderen über eine Lebensspanne. Dreimal hatte er gesündigt, und jedes Mal war er ungesühnt davongekommen. Der junge Dal’Joul, dessen Vater erst dieses Jahr gestorben war, galt als impulsiv und jähzornig, ein Charakterzug, der jedem jungen Mann, der nicht seines Standes war, schon früh Probleme gebracht hätte. Sein Vater jedoch, ein wohlhabender Tuchhändler, der sich Gerüchten zufolge seinen Adelstitel schlicht und einfach erwirtschaftet hatte, hatte immer wieder seine Kontakte spielen lassen, um seinen Sohn vor Konsequenzen zu bewahren. Ein Jammer, dachte ich. Vielleicht wäre es damals noch nicht zu spät gewesen. Der erste der Morde war im späten Sommer dieses Jahres geschehen. Er hatte ein Zimmermädchen in seinem Gemach erdrosselt, nachdem er sich an ihr vergangen hatte. Der Mord war einem seiner Diener angehangen worden. Der zweite geschah in einem Freudenhaus, auf dieselbe Art und Weise. Die Leiche der jungen Hure wurde in einem Kanal gefunden. Der dritte ging aus einer Kneipenschlägerei hervor. Der junge Dal’Joul war in ein Streitgespräch mit einem Wirt geraten, dem er vorgeworfen hatte, seinen toten Vater beleidigt zu haben. Mitten im Konflikt hatte Mitumial ein Messer gezogen und den Wirt vor den Augen aller anderen erstochen. Zwar würde er diesmal vor das Tribunal geführt werden, aber das Ergebnis war vorherzusehen. Wie leicht die Welt doch zu drehen ist, wenn man ein paar Zeugenzungen mit flüssigem Gold ölt. Und ja, vielleicht würde das Tribunal Dal’Joul irgendwann verurteilen. Irgendwann, wenn die Dämonen in ihm Dutzende weitere Opfer gefordert hatten. Und das wird die Waage nicht zulassen. Ich richtete mich auf und setzte mich leisen Fußes in Bewegung. Niemand bemerkte mich, als ich über die Küche in das Atrium schlich, die Treppen hinauf und den mit alten und edlen stehenden Rüstungen geschmückten Gang entlang zum Gemach des Mannes, den ich zu töten gedachte. Ich nahm einen Dietrich aus der Tasche – das Schloss einzuschmelzen hätte unangenehme Gerüche erzeugt - überlistete den Mechanismus und trat ein. Oft frage ich mich, was geschehen wäre, wenn ich meiner Umgebung damals mehr Aufmerksamkeit gezollt hätte. Hätte ich das Detail bemerkt, das mir Minuten später so schmerzlich bewusst werden sollte, meine Hände blutgetränkt, mein Herz müde und rasend zugleich von dem seltsamen, offenbarenden Nektar? Vielleicht hätten die Dinge dann einen anderen Lauf genommen. Vielleicht auch nicht. Schwach erhellte der mondlose Himmel die traurige Szenerie, die sich mir bot. Ein großes, deplatziertes Himmelbett befand sich am Kopfende des Raumes, die Bettlaken zerwühlt. Von den Regalen geworfene Bücher lagen auf dem Boden, und ein vermutlich als Dekor gedachtes Scimitar war in einen teuer aussehenden Tisch gerammt worden wie in einem schlechten Stillleben. Ich rümpfte die Nase und versuchte mir die Gefühle der Hure vorzustellen, die der junge Edelmann hier getötet hatte. Hatte sie ihr Schicksal bereits geahnt, als sie in den Raum eingetreten war, in dem jeder Winkel, jedes achtlos hingeworfene Kleidungsstück und jede leere Weinflasche einem das Wort Verwahrlosung entgegenzuschreien schien? Vermutlich ja. Ich stellte mir vor, wie sie ihr Unbehagen mit einem mädchenhaften Kichern zu überspielen versucht hatte. Ich richtete meinen Blick auf das Bett, auf dem der Besessene schlief, breitbeinig daliegend, die Hände von sich gestreckt wie ein Großgrundbesitzer, schwerfällig schnaufend. Hier hatte er sich von dem Mädchen genommen, was er wollte. Hatte er sie bereits währenddessen begonnen zu würgen? Hatte sie auch dann noch versucht, die Ruhe zu bewahren? Wann waren ihre gespielten, lustgetränkten Schreie zu echten geworden? Ich biss mir auf die Unterlippe und schüttelte den Kopf, um so den unliebsamen Gedanken loszuwerden. Ich würde früh genug alles wissen, ob Dal’Joul es wollte oder nicht. Und ich würde es genießen. Ich zog meinen Dolch aus seiner Scheide. Mit einem fast geräuschlosen Schaben glitt er hervor, gleich einer sich an ihre Beute annähernde Schlange. Ich trat an mein Opfer heran und musterte ihn, halb mitleidig, halb verachtungsvoll. Trotz seiner vierundzwanzig Jahre hatte Mitumial Dal’Joul die zarten Gesichtszüge eines Burschen. Ein spärlicher Bart spross auf seinem Kinn, seine Wangen waren glatt. Rote Flecken prangten auf seiner unbekleideten Brust, und seine Schultern waren schmal und schmächtig. Auf eine gewisse Weise erinnerte er mich an mein altes Ich, wäre da nicht der penetrante Geruch nach getrocknetem Schweiß und Alkohol gewesen. „Die Dämonen sind in dir“, sagte ich, ohne es zu merken. Ich öffnete meine Ledertasche und zog ein schwarzes, dickes Tuch daraus hervor. Dann setzte ich mich neben ihn auf die Bettkante. Im Schatten musste ich wie eine Mutter wirken, die ihrem Kind ein Schlaflied singt. Ich lachte kurz auf, was Dal’Joul mit einem seufzenden, protestierendem Laut quittierte, der ihn aber nicht erwachen ließ. Dann rollte er sich zur Seite, zog seine Knie an die Brust und verschränkte seine Arme gleich einem Kind. Ich schüttelte den Kopf. Hätte ich nicht um die Taten des schmächtigen Mannes vor mir gewusst, hätte ich ihn für einen bemitleidenswerten, verwöhnten Adelssohn gehalten. Aber das war er nicht. Er hatte sich den Dämonen hingegeben, nicht nur einmal, sondern mehrfach, und andere hatten für seinen schwachen Willen zahlen müssen. Und deshalb hatte die schwarze Waage sein Todesurteil gesprochen. Ich ließ mir einen Augenblick, um darüber zu sinnieren, wie die Tötung sich wohl für mich anfühlen würde. Dann packte ich Dal’Joul mit meiner Rechten am Hals, presste sein Kopf gegen das Kissen und schob ihm mit der linken den Knebel in den Mund. Augenblicklich schlug der Mann vor mir seine Augen auf. Ich spannte meine Muskeln an, in der Erwartung, dass er versuchen würde, mich von sich zu stoßen. Aber nichts dergleichen geschah. Ich spürte seinen beinahe unheimlich regelmäßigen Atem auf meiner Nase, als hätte er erwartet, mit einem Knebel im Mund aufzuwachen. Seine graublauen Augen waren weit aufgerissen, und er starrte mich voller Entsetzen an. Entsetzen. Oder … Schicksalsergebenheit? Mein Plan war gewesen, ihm augenblicklich den Dolch, der auf meinem Schenkel lag, in die Brust zu stoßen. Schnell, schmerzlos und ohne Umwege. Aber etwas in seinen Augen irritierte mich, obgleich ich nicht zu sagen vermochte, was genau es war. Einen Moment lang verharrten wir in dieser seltsamen Haltung. Dann begann Mitumial Dal’Joul, Mörder dreier unschuldiger Menschen, zu weinen. Erst war es nur ein Schimmern auf seinen geröteten Augen. Dann füllten sich seine Augenwinkel, und die klare Flüssigkeit begann an seiner Wange herabzuperlen. Durch den Knebel hindurch vernahm ich das Geräusch eines erstickten Schluchzens. Ich starrte ihn irritiert an. Dass ein Besessener vor seiner Strafe in Tränen ausbrach, ja, mich um Gnade anflehte, war mir nichts Neues. Aber in der Regel war es Angst, die ich den Augen meiner Opfer sah, und ihre Tränen galten einzig und allein ihrem Selbsterhaltungstrieb. Aber sein Schluchzen, sein Blick, seine Tränen … etwas an ihnen war anders. Sie wirkten einfach nur … traurig. Zerstört. Was, wenn er unschuldig ist?, schoss es mir plötzlich durch den Kopf. Was, wenn die Waage sich getäuscht hat? Aber nein. Selbst in der abgelegenen Schenke an der Bauernküste hatten mir zwei Menschen von seinen Taten berichten können. Und das Urteil der Waage anzuzweifeln käme einem Verrat gleich. An mir selbst. An der Waage. An deiner Bestimmung. Ich verstärkte meinen Griff um seinen Hals. Immer noch keine Reaktion. Er resigniert. Er weiß, dass es keine Rettung mehr aus seiner Besessenheit gibt, und er beugt sich seinem Schicksal. Für einen Augenblick schien die Zeit stillzustehen. Alles geschah mit einer andersweltlichen Klarheit, als gäbe es nichts außer mir und dem jungen Mann, den ich im Begriff war zu töten. Ich meinte, die Bewegung seiner tränengefüllten Augen in ihren Höhlen zu hören. Tu es. Erfüll deine Pflicht. Mit einem Aufschrei, der sowohl Ausdruck von Zorn als auch von Hilflosigkeit gewesen sein könnte, nahm ich meine Hand vom Knebel, packte meinen Dolch und rammte ihn meinem Opfer tief in die Brust. Seine Augen weiteten sich, in ihnen glomm Erleichterung, was eine Woge des Zorns in mir loslöste. Bereue!, durchzuckte es meinen Geist voller Wut, bereue deine Schwäche! Ich löste die Klinge aus seiner Brust, holte weit aus und stach erneut zu, diesmal ein Stück unter seinem Kehlkopf. Mein Dolch stieß auf Widerstand, ich drückte fester. Diesmal entwich Mitumial Dal’Joul ein erstickter Schrei, aber immer noch machte er keine Anstalten, sich zu wehren. Irgendetwas stimmte nicht, und ich spürte es. Irritiert zog ich meinen Dolch aus der Brust des jungen Mannes hervor und starrte ihn an. Sein Kopf war zur Seite gesackt, und der Knebel aus seinem Mund gefallen. Er schien etwas sagen zu wollen, aber er brachte nichts als ein Röcheln zustande. „Wieso?“, entwich es mir, sowohl zu mir selbst als zu ihm. „Wieso bereust du nicht?“ Er antwortete nicht. Das Leben entwich seinem Körper, und ich spürte es. Seine Sünden, schoss es mir durch den Kopf. Wenn ich ihn jetzt verliere, werde ich sie nicht sehen können. Ich hob ein letztes Mal meine Klinge und rammte sie ihm in den Hals. Diesmal schoss mir eine Fontäne aus Blut entgegen, aber während mich das Gefühl des warmen Rots auf meiner Haut normalerweise mit Triumph erfüllte, spürte ich diesmal nichts. Dann packte mich das Feuer und ich stürzte in das Schwarz.