Enderal:Der Schlächter von Ark, Buch 2: Der Namenlose

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Der Schlächter von Ark, Buch 2: Der Namenlose

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Literatur Der Schlächter von Ark, Buch 2: Der Namenlose
Daten
Gewicht Gewicht
1
Wert Wert
30
Autor
Jaél Gerbersohn
Bemerkungen
-




Der Schlächter von Ark, Buch 1: Folge dem Feuer ist ein Buch in Enderal – Die Trümmer der Ordnung.

Quellen

Eine digitale Version könnt ihr auf der Website von SureAI finden - Der Schlächter von Ark, Buch 2: Der Namenlose

Fundorte


Inhalt

Kapitel 2: Der Namenlose

Bis zum heutigen Tage sind mir Ursprung und Natur jener Vision ein Rätsel. Wer war die mysteriöse Frau? Und wie war sie in meine Gedanken eingedrungen? Oder war sie das gar nicht, war sie nur ein spektrales Abbild meiner Gedanken, eine Verkörperung meines Unterbewusstseins? Dies waren die Fragen, die mir unmittelbar nach meinem Erwachen durch den Kopf schossen.

Doch mir blieb nicht viel Zeit zu sinnieren. Denn als ich schweißgebadet und schwer atmend in meinem Bett wieder aufwachte, fiel mir sofort auf, dass irgendetwas anders war. Desorientiert richtete ich mich auf und rieb mir meine brennenden Augen. Ich sah mich in meinem Zimmer um und meine Knochen knackten widerstrebend, als ich meinen Kopf von links nach rechts wandte. Nichts. Meine Umgebung erschien mir vollkommen normal. Ich ließ meinen Blick ein weiteres Mal durch den schmalen Raum streifen, von der schweren Holztüre über den kleinen Schrank bis zu dem Schreibertisch am rechten Ende des Raumes, auf dem zahlreiche Folianten und Schriftrollen unordentlich abgelegt worden waren. Verunsichert schloss ich meine Augen und kehrte in mich. Nein ... Die Unstimmigkeit entstammte nicht meiner Umgebung. Sie entsprang mir selbst. Genauer gesagt einem seltsamen, damals ungewohnten Gefühl in meinem Magen. Es war ein dumpfes, flaues Unbehagen, eine diffuse Angst, gleich der, die wir Menschen empfinden, wenn wir wissen, dass etwas Schlimmes oder Forderndes bevorsteht. Und dennoch schien mir das Gefühl vertraut, wie eine düstere Wahrheit, die ich all die Jahre in mein Unterbewusstsein verdrängt hatte und die sich nun ihren Weg in meinen Verstand gebahnt hatte, wie immerwährend glühende Kohlen unter einer dünnen Schicht Eis, deren rissige Oberfläche begann zu schmelzen. Verunsichert legte ich meine Hände vor meinen Bauch, wie Kinder es instinktiv taten, wenn sie sich ihren Magen verdorben hatten. Aber natürlich half es nichts – das seltsame, flaue Gefühl blieb.

Benommen richtete ich mich auf und warf einen Blick aus dem schmalen Fenster über dem Schreibertisch. Die Vision, die sich wie eine Ewigkeit angefühlt hatte, schien in der Realität kaum mehr als eine Stunde angedauert zu haben, denn noch immer drang von außen kein einziger Klang an mein Ohr, und das Licht war nach wie vor trübe und blass. Nur ein fahler, grauer Sonnenkegel drang in meine Priesterkammer herein und erhellte den Tanz hunderter verirrter Staubkörner in der Luft. Zusätzlich zu meinem Unbehagen war mir übel, meine Augen brannten und ich fühlte mich schwach. Wasser … Ich brauche Wasser. Träge setzte ich mich in Richtung des stets mit frischem Quellwasser gefüllten Trogs in Bewegung, der sich neben der schweren Holztür meines Zimmers befand. Ich spürte, wie sich das Unbehagen in mir verstärkte, und für einen Moment schoss mir ein aberwitziges Gedankenspiel durch den Kopf. Was würde ich in der spiegelnden Wasseroberfläche sehen, wenn ich mich über den Trog beugte? Die entstellte, verweste Fratze aus der Ruine? Oder das unscheinbare Gesicht des Mannes, dessen Leben mehr von Zufall und Alternativlosigkeit gelebt wurde als von freien Willen? Ich bekämpfte das Verlangen, mich von dem Trog abzuwenden und ging vor ihm in die Knie. Aber meine Angst wies sich als unbegründet. Keine eitrigen Maden krochen aus dem Mund des Mannes, der mir aus der Reflektion entgegenstarrte, und keine rissige Haut offenbarte das Fleisch seiner Knochen. Nur ein Traum. Es war nur ein Traum. Ich schmunzelte halb kraftlos, halb verwirrt über meine eigene Torheit, formte meine Hände zu einer Schale und trank drei tiefe Schlucke. Dann spritze ich mir das kühle Nass ins Gesicht und verrieb es auf meinem Körper, meinem Haar, meinen Armen und meinen Füßen, griff nach einer Keilerborstenbürste, die neben dem Trog lag und schrubbte meine Haut so heftig, dass sie zu brennen begann. Zuletzt nahm ich meine braune Patersrobe von dem gusseisernen Haken an der Tür, streifte sie mir über und lehnte mich schließlich erschöpft an die Mauer. Ich fühlte mich besser, aber nicht gut. Beruhig dich einfach, Jaél. Es war nur ein Traum … nur ein Traum. Mehrmals wiederholte ich diesen Satz in Gedanken, um die Überbleibsel des – wie ich meinte – nächtlichen Alptraums endgültig zu verbannen. Aber die erwünschte Wirkung blieb aus, denn jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, schossen mir die Bilder meiner eigenen Leiche durch den Kopf und das Unbehagen in mir schwoll an, wie um die Aussage der Traumbilder zu untermalen. Ich seufzte auf und begann in meinem Zimmer auf- und abzuschreiten, wie ich es immer tat, wenn ich nachdachte.

Nur zu gut erinnere ich mich heute daran, dass jener Moment der erste in meinem Leben bis dahin gewesen war, in dem ich die Stille als etwas Bedrückendes empfunden hatte. Wie sehr wünschte ich mir das vertraute Knarzen von Wagenrädern, die hellen Rufe der Bäckersfrau oder das gelegentliche Iahen eines Esels herbei … Aber nichts, absolut nichts war zu hören, nicht einmal der sonst in Nebelhaim allgegenwärtige Klagesang des Windes. Gemeinsam mit der fahlen Ausleuchtung meiner Kammer fühlte ich mich wie ein Teil eines tirmatralschen Trauergemäldes. Und immer wieder dieselben Bilder. Der Sarg … Die Leiche. Und die verschleierte Frau mitsamt ihrer Worte … Folge dem Feuer … Und beende dein falsches Leben. Hing das flaue Gefühl in meinem Magen vielleicht mit ihnen zusammen? Was beim rechten Weg hatten sie zu bedeuten? Wieso träumte ich von derlei Dingen überhaupt? Meine Miene verdüsterte sich. Falsches Leben? Was für ein geballter Unfug. Ich lebte genau das Leben, das der Pfad für mich auserkoren hatte. Und selbst wenn mir von Zeit zu Zeit schwermütige Gedanken durch den Kopf schossen und ich hin und wieder einen neidischen Blick auf die abenteuerlichen Gestalten, die gelegentlich in Nebelhaim für Rast und Proviant einkehrten, warf, bedeutete das nicht, dass mein frommes Leben etwas „Falsches“ an sich hatte. Nein … Ich konnte von Glück reden, dass ich nicht an der Seite meines unglücklichen Vaters bis zum Ende meiner Tage Fett auf Tierhäute schmieren musste oder gar zu jenen schicksalsgeschlagenen Menschen zählte, die sich in den stinkenden Gassen der Unterstadt Arks gegenseitig für einen schalen Kanten Brot die Kehle aufschlitzten. Ich kniff meine Augen zu einem Schlitz zusammen. Derlei Gedanken sind es doch, die wegestreue Menschen vom Pfad abbringen. Sie verlieben sich in die irrsinnige Vision eines „abenteuerlichen Lebens“, und am Ende finden sie sich in Elend und Leid wieder. Mit düsterer Miene dachte ich an die grausamen Geschichten aus der Außenwelt, die Nebelhaim von Zeit zu Zeit erreichten. Immer waren es Egoisten und machtgierige Menschen, die durch ihr eigennütziges Handeln Unschuldige ins Verderben rissen. Schließlich hielt ich inne. Nein … Mein Leben ist genau wie es sein soll.

„Ist es das wirklich, Jaél?“

Ich fuhr zusammen. Was zum Henker? Verwirrt drehte ich mich herum, um den Ursprung der Stimme zu ermitteln. Nichts … Ich war allein. Aber woher kam diese Stimme dann? Ich musste sie mir eingebildet haben. Soweit war es also schon gekommen – ich hörte Stimmen. Dieser Traum treibt mich noch in den Wahnsinn. Voller Ärger über mich selbst setzte ich mich in wieder in Bewegung. Aber kaum war ich zwei Schritte gegangen, schnitt die Stimme erneut durch meine Gedanken – und diesmal schwoll zeitgleich mit ihrem Erklingen das flaue Angstgefühl in meinem Magen an, gleich dem Auflodern frischer Glut nach einem Lufthauch. Bilder und Gefühle drängten sich in mein Bewusstsein, Bilder und Gefühle, die sich drückend und schwer, aber gleichzeitig vertraut anfühlten. Diesmal sprach die Stimme mit einer Mischung aus Trauer und Spott.

„Wie lange willst du die Augen noch vor der Wahrheit verschließen? Was muss passieren, dass du es endlich begreifst?“

Diesmal taumelte ich mit ihrem Erklingen regelrecht einen Schritt zurück, weniger aber ob der Worte als wegen des Gefühls, das sie in mir ausgelöst hatte. Gedanken fegten durch meinen Kopf, und diesmal waren es nicht nur die Szenen aus meinem Traum. Ich sah mich selbst, wie ich schweißgebadet auf meinem Bett lag und zitterte. Ich sah mich trübsinnig in die Ferne starren, während Mater Pyléa mir aus dem Pfad vorlas. Und mit all diesen Gedanken ging dieses siechende Unbehagen einher, ein Gefühl der Verlassenheit, ein Gefühl der Angst. Instinktiv presste ich meine beiden Hände gegen meinen Bauch. Beim rechten Weg … ich verliere tatsächlich den Verstand. Ich verliere gottverdammt nochmal den Verstand! Blitzartig drehte ich mich um und hastete zu meinem Pult, auf dem ein aufgeschlagener, in Leder gebundener Foliant lag. Es war handelte sich um eine handschriftliche Transkription des Pfades, die ich kurz vor der Sternfeuernacht-Feier begonnen hatte. Zwar war es dank einer ominösen, pressenartigen Konstruktion eines raffinierten Sternlingsforschers seit gut fünf Dekaden nun möglich, geschrieben Werke auf beinahe magische Art und Weise zu vervielfältigen (einen Vorgang, der der Presse zugrunde liegenden Mechanik wegen „Buchdruck“ genannt wurde), aber nichtsdestotrotz galt es nach wie vor als Zeichen spiritueller Hingabe, die heiligen Verse der Tradition nach von Hand zu vervielfältigen. Das Transkribieren hatte etwas Meditatives an sich, etwas Ruhiges, und wenn irgendetwas diese seltsame Stimme und die anschwellende Panik in meinem Magen verbannen konnte, dann war es nun Ruhe. Hastig schob ich meinen Hocker zurecht, entkorke das Tintenfässchen und griff nach der Feder. Dann begann ich zu schreiben. „Arbeit befreit den Kopf“, redete ich mir zu, ermutigt von der Tatsache, dass das Trommelfeuer der seltsamen Bilder und das mit ihnen einhergehende Gefühl wieder abgenommen hatten. Es war ein Traum gewesen, nichts weiter. Ein beängstigender Traum, ohne Frage, aber nichtsdestotrotz ein Traum. Ja … Ein paar Seiten konzentriertes Schreiben und eine kleine Versrezitation, und dieser Spuk hat ein Ende. Nichts mehr wird mich dann an die entstellte Gestalt im Sarg an dich erinnern, und morgen schon kann ich mein bedeutungsloses Leben weiterführen ja, alles wird wieder seinen gewohnten Lauf nehmen und irgendwann werde ich sterben, ohne die Wahrheit jemals gesucht zu haben, eine unbedeutende, verblassende Zahl unter Tausenden, und niemand, nein, niemand wird sich jemals an dich, Jaél Gerbersohn, den Namenlosen erinnern und … Erst jetzt bemerkte ich, dass mir kalter Schweiß die Stirn in Strömen herunterlief und ich die Schreibfeder so fest umklammert hatte, dass meine Hand schmerzte. Die Sätze, die ich niedergeschrieben hatte, waren krakelig und voller Fehler. Ich ließ die Tintenfeder fallen und keuchte. Hexenwerk! Das ist Hexenwerk! Ich knallte den Folianten vor mir zu, schloss die Augen und kehrte in mich, wie Mater Pyléa es mir zum Klären des Geistes vor dem Gebet beigebracht hatte. Atmen, Jaél. Atmen. Ich zitterte am ganzen Körper, und mein Puls hämmerte förmlich gegen meine Handgelenke. Die Stimme kam eindeutig von mir. Sie war ein Teil meiner Gedanken und dennoch so fremd, so bedrohlich , und so lauernd. „Es ist zwecklos, Jaél." flüsterte die Stimme plötzlich wieder. „Du kannst der Bestimmung nicht entfliehen. Beende dein falsches Leben, beende es hier und jetzt … und folge dem Feuer.“ Einen Augenblick lang herrschte Stille. „Sonst wirst du sterben.“

Als das letzte Wort in meinem Geiste verhallt war, explodierte die Angst in mir. Sie schoss meine Wirbelsäule empors und bahnte sich erbarmungslos ihren Weg durch meinen Körper, in mein Herz, in meine Fingerspitzen, durch die Knochen meines Schädels hinein in meinen Verstand, und das Gefühl, das sie in mir auslöste, war grauenvoll. Immer und immer wieder erschienen die furchtbaren Bilder aus dem Traum und die seltsamen Erinnerungen an scheinbar wahllos zusammengewürfelte Momente meines Lebens. Ich sah mich orientierungslos zwischen den Tempelbänken auf und ab schreiten. Ich sah, wie ich den Körper eines Verstorbenen in endraläischer Tradition für seine letzte Reise vorbereitete und dabei weinte. Und ich sah mich schweißüberströmt im Bett liegen, schwer atmend und mit weit aufgerissenen Augen. Aber es waren nicht einmal die Bilder, die es so unerträglich machten … es war das Gefühl, das über ihnen allen lag wie eine bleierne, graue Wolke und das mich um den Verstand zu bringen schien. Ich fühlte eine Mischung aus Angst und Panik, ein Gefühl bitterer Einsamkeit und Verlassenheit. Ich fühlte mich wie vor einem pechschwarzen, düsteren Abgrund stehend, ohne Identität, verloren. Ich fühlte mich … allein.

Es mag Euch schwer fallen, meine Beschreibung nachzuvollziehen, aber vielleicht hilft es Euch, die Mechanismen des menschlichen Geistes zu verstehen. Passiert einem Menschen etwas Schreckliches – wie der Tod eines Geliebten –, dann reagiert unser Verstand meist mit einer Art Schockzustand. Nur ein Teil dessen, was wir eigentlich empfinden müssten, dringt in unseren unmittelbaren Verstand, und die restlichen Gefühle werden in die Tiefen unseres Unterbewusstseins verbannt, verscharrt wie ein unliebsames, gefährliches Geheimnis. Erst wenn der Geist sich einigermaßen erholt hat, werden Stück für Stück die in dem verbannten Teil der Erinnerungen vergrabenen Gefühle ans Tageslicht gefördert, so dass der Betroffene sich mit ihnen auseinandersetzen und der Trauerprozess vollends abgeschlossen werden kann. Kommt es jedoch – aus welchen Gründen auch immer – nicht zu dieser Wiederaufarbeitung, beginnen die vergrabenen Erinnerungen irgendwann zu verwesen, zu faulen, und machen sich bemerkbar. Wir fühlen uns schwermütig, leiden an Angstattacken oder verlieren gar gänzlich die Fähigkeit zu empfinden. Zwar ist es möglich, mit einem nicht aufgearbeiteten Trauma wie dem solchen bis ans Ende seiner Tage zu leben, jedoch rauben uns die verscharrten Erinnerungen im besten Falle einen gewaltigen Teil unserer Lebenskraft oder treiben uns im schlimmsten Fall zu seltsamen Taten.

Als die Tentakel der Angst in mir wüteten, begriff ich, dass die grauenvollen Gefühle genau solche verwesenden Erinnerungen waren. Immer schon waren sie dagewesen, lauernde Schatten unter einem Schutzpanzer aus Glas. Es waren kleine Momente gewesen, in denen ich sie bemerkt hatte, klein und unscheinbar. Manchmal in der tiefsten Nacht, als ich schweißgebadet aus einem Alptraum erwacht war, unfähig, mich an auch nur ein Bild des Traumes zu erinnern. Manchmal in kleinen Einrissen meiner Gedanken, die mich bei vollkommen normalen Tätigkeiten ereilt hatten. Für einen winzigen Augenblick erfüllte mich dann immer eine nebelgraue Einsamkeit, und mir war, als wäre ich nichts weiter als ein Beobachter meiner selbst, Zuschauer eines heuchlerischen, bigotten Theaterstücks. Mein falsches Leben. Was ich lebte, war eine Lüge, ein verzweifelter Versuch meines Verstandes, etwas in mir zu überdecken, was nicht überdeckt werden konnte. Ein Geheimnis, irgendetwas, was ich verdrängt hatte und was mein Geist nun nicht mehr zu verdecken vermochte. Nun war es freigebrochen, und führte mir erbarmungslos vor Augen, was geschehen würde, wenn ich mich nicht auf die Suche nach der Wahrheit machte: Der Tod. Du stirbst.

Aber manche unter Euch mögen wissen, dass Erkenntnis und Handeln zwei fundamental unterschiedliche Dinge sind. Zwar hatte die Stimme in mir mich dazu gezwungen hinzusehen – und ich hatte gesehen –, aber nichtsdestotrotz wollte ich es nicht akzeptieren. Ich stieß einen gutturalen Schrei aus und fegte meine Schreibutensilien vom Tisch, ich warf meinen Hocker um und schlug mit bloßer Faust gegen die Wand meiner Kammer, den beißenden Schmerz, der meinen Arm daraufhin hinaufjagte, ignorierend. Ich wollte dieses Gefühl aus mir verbannen, irgendwie, damit ich wieder in mein altes Leben zurückkehren konnte. Aber mein Sträuben war zwecklos, und mit jeder Sekunde, die verstrich, begann mir die Panik die Kehle mehr und mehr zuzuschnüren, sie überschwemmte mich wie eine erbarmungslose Flut. Erst als mein Atem kaum mehr als ein Keuchen war, sank ich, den Rücken gegen die Wand gelehnt, und das Gesicht in meinen Händen vergraben, entkräftet zu Boden. Es ist zwecklos. Ich spürte, wie das Salz meiner Tränen auf meinen Wangen brannte und begann zu schluchzen wie ein kleines Kind. „Was soll ich nur tun? Bei Malphas, was soll ich nur tun?“, brach es aus mir hervor. Meine Stimme klang kümmerlich und zittrig.

Eine Weile lang geschah nichts. Dann vernahm ich wieder die Stimme in meinen Gedanken, sanft, melancholisch.

„Du kennst die Antwort bereits, Jaél … Sie hat es dir gesagt.“

Diesmal verschlimmerte die Stimme die Einsamkeit in mir nicht. Nein, für einen Moment fühlte ich mich fast geborgen, und dieser Moment war es, in dem ich meine Entscheidung traf. Ja … Sie hatte Recht. Ich wusste, was zu tun war. Ich wusste es und hatte es schon immer gewusst, doch so wie ein grünschnabliger Soldat erst nach dem Verlieren eines Beines begreift, dass die Mären von glorreichen Kriegen nur Mären sind, hatte ich meinen eigenen Tod sehen müssen, um zu begreifen.

Zu begreifen, dass ich mich auf die Suche nach der verdrängten Wahrheit machen musste. Zu jenem Zeitpunkt war mir noch unklar, was die verschleierte Frau mit dem „Feuer“ gemeint hatte. Stand das Feuer für die Wahrheit? Die Wahrheit hinter dem Gefühl der Leere und Einsamkeit, das ich bis zum damaligen Tage zu verdrängen gelernt hatte, und welches nun nicht mehr verdrängt werden konnte? Der neugeborene Mann, der später als der „Schlächter von Ark“ bekannt werden sollte, wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, dass er die Antwort auf seine letzte Frage schon sehr bald erfahren würde.

~

Nur noch vage sind die Erinnerungen an die Stunden unmittelbar nach meiner Entscheidung. Macht nicht den Fehler, an dieser Stelle zu vermuten, dass das beklemmende Gefühl in meinem Magen mit meiner Erkenntnis über seine Natur gewichen war. Nein, es war immer noch da, und jedes Mal, wenn ich beim Packen meiner Siebensachen auch nur einen einzigen Gedanken der Unentschlossenheit aufkeimen ließ, wurde es wieder stärker, beklemmender und präsenter, gleich einem Meister, der dazu entschlossen war, seinen wankelmütigen Schüler mit harten Worten und Tadel auf dem rechten Weg zu halten. Dennoch spürte ich eine Entschlossenheit, die ich in meinem Leben so noch nie gespürt hatte. Ja, tatsächlich fühlte ich so etwas wie … Aufbruchsstimmung, so absurd diese Worte in Anbetracht des just Beschriebenen auch klingen mögen.

Als ich meine Habseligkeiten beisammen hatte, verließ ich schließlich den Tempel, der ein ganzes Jahrzehnt meine Heimat gewesen war. Ich warf einen letzten, verabschiedenden Blick in das ehrfurchterregende Innere der Tempelhalle. Da stand es, Malphas’ steinernes Ebenbild, in seinen massiven, stählernen Harnisch gekleidet, den Blick entschlossen in die Ferne gerichtet. In ihrer Linken hielt die Statue eine Nachbildung zerborstener Ketten, und die Rechte deutete kraftvoll und voller Stolz nach vorne, den Weg weisend. Ein letztes Mal schloss ich die Augen und sog das im Tempel allgegenwärtige Duftgeflecht aus Weihrauch, Lavendel und Rosen ein. Früher hatte mir der Geruch ein Gefühl der Geborgenheit vermittelt. – Jetzt kitzelte er unangenehm in meiner Nase und erinnerte mich an den der Totensalbe, die die Bewohner der Inseln von Kilé zum Einbalsamieren ihrer Dahingeschiedenen verwenden. Ich schluckte schwer, entschwand ins Freie und schloss schließlich die Tür hinter mir.

Der Inhalt des Pakets, das ich mir geschnürt und über meine Schulter gehängt hatte, umfasste nicht viel: einen Laib noch verhältnismäßig saftiges Endraläer Krustenbrot und einen Schlauch Wasser aus dem Trog, meine kratzige Baumwolldecke, einen Beutel voll Groschen und die heiligen 101 Verse, die ich nach anfänglichem Zögern doch eingesteckt hatte. Zwar fühlte sich der Foliant ungewöhnlich schwer an, und sein Ledereinband erschien mir ungewöhnlich rau und gleichzeitig … ja, klebrig, aber zu tief war meine Gebundenheit zu dem Lichtgeborenen, dessen heiliges Wort der spirituelle Kompass für einen jeden gläubigen Endraläer war, und der neben Mater Pylea mein einziger Weggefährte in meinem bis dahin einsamen Leben gewesen war. Eines war mir klar: Ganz egal, wohin ich reisen würde, ich brauchte Proviant und anständige Kleidung. Nicht nur, dass die Patersroben zu schwer und unhandlich waren und in den kommenden Monaten des Sommers viel zu warm sein würden, nein, sie erschienen mir ebenfalls wie Ballast, vollkommen ungeeignet, um mein seltsames Vorhaben in die Tat umzusetzen. Zwar würde mich jeder Reisende – Briganten mal ausgenommen – mit Respekt und Ehrfurcht behandeln, aber gleichzeitig waren sie ein Symbol für mein altes Leben als Pater.

Ich musste also zum Marktplatz und einen Händler finden, der trotz des heiligen Tages seine Waren zum Verkauf anbot. Es war ein seltsames Gefühl, den sonst so rege bevölkerten Marktplatz derart still zu erleben. Lediglich ein paar Hühner, die ihr Besitzer in einem eigens errichteten Gehege in einer Ausbuchtung der kümmerlichen Stadtmauer zusammengepfercht hatte, gackerten müde und verschlafen, und außer einem Hund mit fransigem Fell schien niemand meine Anwesenheit auch nur zu bemerken. Die Sonne war mittlerweile aufgegangen, aber sie schenkte der Stadt ob der vielen, grauen Wolken kaum Licht. Es würde regnen.

Schließlich hatte ich mein Ziel erreicht. Es war ein kleiner, gemütlicher Krämerladen. Die Häuserfassade war von Efeu überwuchert, das selbst die milchigen Fenster unmittelbar unter dem schief gebauten Dach umrahmte. Ein mit Kisten und Fässern beladener Handkarren stand unverrichteter Dinge vor dem Eingang, als hätte sein Besitzer ihn inmitten der Arbeit stehen gelassen, und vermutlich war es auch so gewesen, denn der Geruch von Alkohol, Schießpulver und Bratenfett lag noch spürbar in der Luft. Bunte Girlanden, die im Sonnenlicht ein buntes Farbspektakel abgegeben hätten, hingen noch schlaff zwischen den engen Häusergassen, und mehrmals knirschte es unter meinen Stiefeln, als ich über die Splitter zerborstener Tonkrüge lief. Als „Carvais Allerlei“ wies das Schild neben der schweren Eingangstür den Laden aus.

Ich klopfte, und klopfte erneut, als Momente verstrichen waren und keine Reaktion ersichtlich gewesen war. Erst beim dritten Mal hörte ich schlurfende Schritte, und ein betagter Sternlingsmann mit glattrasiertem Gesicht und scharfer Nase öffnete mir die Tür. Sein Blick verriet, dass er bis zu dem Moment, in dem er mich erkannte, den ungewünschten Kunden zu verscheuchen gedacht hatte, vermutlich da er selbst rege an den Feiern der Sternsommernacht teilgenommen hatte – zumindest ließen seine tiefen Augenringe derartiges vermuten. Für einen kurzen Moment erschien mir sein Anblick seltsam bizarr, ja, vertraut, als hätte ich etwas derartiges schon oftmals erlebt, aber dieses Gefühl verflog in dem Moment als der Sternling das Wort erhob. „Ähm … Pater?“, sagte er, die Stimmbänder rau und geschunden. Er blickte nervös auf das gestickte Emblem meiner Robe, das ein stilisiertes Auge mit einem Schwert zeigte. „Kann ich Euch helfen?“ Ich bemühte mich um ein Lächeln. „Könnt Ihr, indem Ihr mir Eure Waren zeigt. Darf ich eintreten?“ Ich war überrascht, wie selbstsicher, bestimmt und freundlich zugleich meine Stimme klang. Für einen Moment betrachtete mich der Sternling namens Carvai verunsichert. Er war wie alle seiner Ethnie klein und drahtig gebaut und hatte krauses Haar und eine spitze Nase. Carvai war ein wegestreuer Mann und besuchte mit seinen etlichen Kindern stets pflichtbewusst die drei Messen jede Woche, was auch der Grund gewesen war, dass ich ihn als Ausstatter für meine aberwitzige Reise erwählt hatte. Er würde keine Fragen stellen, zu groß war sein Respekt vor dem Klerus. Kurz kratzte sich Carvai an seiner Nase und sah mich verschlafen und verwirrt zugleich an. In seinen Augen las ich die stumme Frage, was beim rechten Weg der Dorfpriester zu jener frühen Morgenstunde in einem Krämersladen suchen könnte. Dann nickte er jedoch ergeben, trat zur Seite und ließ mich eintreten. Sein Haus versprühte anders als die trostlose Landschaft um Nebelhaim ein Gefühl rustikaler Geborgenheit. Ich hörte das Knistern des Kamins aus einem großen Raum am Ende des Ganges, und für einen kurzen Moment sah ich ein junges Mädchen durch eine Tür am Kopf der Treppe rechts neben dem Eingang lugen. Ich beneidete das Sternlingskind. Ihr und ihren Geschwistern hatte ihr Vater ein Zuhause geschenkt, das Gefühl von Geborgenheit, das ich bei Gilmon niemals erfahren hatte. Als Pylea mich nach der Weihe unter ihre Fittiche genommen hatte, war es schon zu spät gewesen.

Die hölzernen Wände wirkten solide, wenngleich alt, und ein großes Küstenpirscherfell hing an der linken. Zögerlich tat ich einen Schritt und stolperte beinahe über eines der etlichen Schuhpaare, die ich ganz übersehen hatte. Ich hörte die Tür hinter mir ins Schloss fallen, und Carvai räusperte sich.

„Hier lang, Pater“, sagte er und verschwand in den großen Raum, aus dem das Knistern stammte und der sich als Verkaufsraum entpuppte. Es war erstaunlich. Hinter dem hölzernen Tresen, der das Herrschaftsgebiet des Verkäufers von dem des Kunden trennte, türmten sich Dinge mannigfaltigster Art, Möbel, Kisten, Truhen. Große Bücherregale standen überall, wo die Wand noch Platz bot, und allesamt waren sie mit staubigen Folianten, Schriftrollen, Kristallen oder Schatullen gefüllt. So klein und bescheiden der efeuüberwucherte Laden von außen aussehen mochte, ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, dass sich sicherlich die eine oder andere kostbare Antiquität unter der endlosen Menge an Dingen, die der Krämer hortete, befand.

„Also … Was genau braucht Ihr, Pater?“, fragte der Sternling schließlich.

Einen Moment lang fiel mir keine Antwort ein. Ja, was eigentlich? Ich wollte aufbrechen, um die mysteriöse Frau aus meinem Traum zu finden, und ein Gefühl sagte mir, dass meine Reise vielleicht nicht in Enderal enden würde.

„Naja …“, setzte ich an. „Alles, was man für eine längere Reise braucht.“

Der Sternling furchte die Augenbrauen. „Eine Reise? Wohin denn?“ Er stockte einen Moment. „Falls die Frage Euch genehmt.“

„Ich reise … gen Ark“, improvisierte ich. Je später der Krämer auf die Idee kommen würde, die Kunde meiner Flucht weiterzuerzählen, desto besser. „Der Hohepriester verlangt nach uns.“ Das schien ihn zufrieden zu stellen.

„Verstehe …“, sagte er und öffnete die Klapptür des Tresens. „Dann fühle ich mich umso geehrter, dass Ihr meinen Laden aufsucht.“ Ich nickte lächelnd und ließ mich von ihm durch sein Allerlei führen.

Eine gute halbe Stunde später war ich um einhundertundzwei Groschen ärmer und um einen robusten Lederrucksack, ein gutes Paar Stiefel, eine Reisekutte mit tiefhängender Kapuze und einen alten Eisendolch, mit dem ich nicht umzugehen wusste, reicher. Außerdem hatte mir Carvai einen Wanderstab verkauft, der angeblich von Pilgern, welche die sieben Wegesschreine bereisten, favorisiert wurde. „Er eignet sich vorzüglich zum Abwehren von Ungeziefer“, hatte er mir vertrauenserweckend bestätigt. Zum Abschied hatte ich ihn gesegnet und war mit priesterlichem Lächeln seinem Laden entflohen. Proviant hingegen erstand ich in der Dorftaverne. Zwar sah mich der Matris, der allen Naturgesetzten zum Trotz ob der Feierlichkeiten der vorangegangenen Nacht bereits wieder voller Elan und Energie die Zeugen des Festes beseitigte, leicht verwirrt an, aber er verkaufte mir nach einer knappen Erklärung meiner Reiseziele zu günstigen Preisen einen Laib duftendes Brot, getrocknete Früchte und einen ganzen Bottich eingelegtes, säuerlich riechendes Flüsterkraut, das seiner langen Haltbarkeit wegen eine beliebte Wegzehrung unter Reisenden darstellte. Auch er bat mich um meinen priesterlichen Segen, den ich ihm mit einem seltsamen Gefühl der Lüge im Magen gewährte. Noch nie hatte ich mich bei jenem routinierten, zeremoniellen Akt falscher gefühlt.

Der Gardist Yleas war der letzte Mensch, den ich sah, bevor ich den Hügel, auf dem Nebelhaim gelegen war, hinunterwanderte. Er war zu verschlafen, um meine Reiseziele auch nur zu erfragen. Gehörig öffnete er mir das hölzerne Tor und gehieß mir Schreitewohl. Als ich Nebelhaim hinter mir ließ, durchflutete mich ein Gefühl, dass sich am besten als melancholische Befreiung beschreiben lässt. Ich hatte binnen weniger Stunden mein Leben, das die verschleierte Frau aus dem Traum als „falsch“ bezeichnet hatte, beendet. Niemand würde mein Fehlen bis spät in den Tag hinein bemerken.