Enderal:Der Schlächter von Ark, Buch 4: Asche

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Der Schlächter von Ark, Buch 4: Asche

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Literatur Der Schlächter von Ark, Buch 4: Asche
Daten
Gewicht Gewicht
1
Wert Wert
30
Autor
Jaél Gerbersohn
Bemerkungen
-




Der Schlächter von Ark, Buch 4: Asche ist ein Buch in Enderal – Die Trümmer der Ordnung.

Quellen

Eine digitale Version könnt ihr auf der Website von SureAI finden - Der Schlächter von Ark, Buch 4: Asche

Fundorte



Inhalt

Kapitel 4: Asche

Es musste ungefähr zwei Uhr nachts gewesen sein, als ich meinen Plan in die Tat umsetzte. Das Stimmengewirr von unten hatte bereits um Mitternacht herum begonnen abzuflauen, aber ich wollte keine unnötigen Risiken eingehen. Vorsichtig trat ich vor meine Zimmertür und lugte in den Gang, an dessen Ende eine Holztreppe nach unten in den Schanksaal führte, zog meinen Kopf jedoch rasch wieder zurück, als ich dumpfe, schwere Schritte die Treppe heraufpoltern hörte. Ich schloss die Tür hinter mir und lauschte. Eine Frau und ein Mann, alle beide der Unregelmäßigkeit ihrer Schritte nach zu urteilen zumindest angetrunken. Konnte es sich bei den Mann um einen der Primitivlinge handeln? Nein … Seine Stimme klang zu hell, zu sanft, zu müde. Ich wartete, bis die beiden meine Tür passiert hatten und die ihre ins Schloss gefallen war. Dann schlüpfte ich rasch in den Gang zurück. Diesmal war er leer. Leisen Fußes schlich ich zum Kopf der Treppe und lugte in den Schanksaal hinunter. Nichts. Selbst die Schankmagd und der Wirt schienen sich schon schlafen gelegt zu haben, und lediglich der charakteristische Geruch nach Fett, Alkohol und Schweiß zeugte noch von den trinkfreudigen Gästen, die noch bis vor wenigen Stunden den weltlichen Gelüsten gefrönt hatten. Zufrieden nickte ich, wie um mich selbst zu bestätigen, und kehrte in mein Zimmer zurück. Ein leerer Schanksaal bedeutete, dass sich, bis auf einen Wachposten – vielleicht ein bulliger Farmersohn, der sich ein paar Groschen dazuverdienen wollte –, auch außerhalb Tavernenmauern niemand befinden würde.

Sorgsam überprüfte ich die Utensilien, die ich für meine Rache zurechtgelegt hatte und band mir den sie beinhaltenden Lederbeutel um meine Hüfte. Anschließend zog ich mir die Kapuze meiner Vagabundenkluft tief ins Gesicht und beglückwünschte mich ein zweites Mal zu ihrem Kauf. Das Fenster ließ sich mühe- und geräuschlos öffnen. Ich klappte die beiden Fensterläden, die das Zimmer vor der Kälte der Nacht schützen sollten, nach außen. Nur ein kleines Knarzen. Dann lugte ich die lange Wand hinunter. Ein Gefühl der Genugtuung erfüllte mich. Zwar mochte ich nicht so muskulös und stark wie die beiden Primitivlinge sein, aber dafür war ich wendig und agil. Meine Hände waren lang und schlank, perfekt für mein Vorhaben geeignet. Vorsichtig stieg ich aus dem Fenster hinaus. Trotz des eisigen Windes erfüllte mich meine neu gewonnene Entschlossenheit mit einer wohligen, ja beinahe pochenden Wärme. Es war, als bezog ich aus dem flauen Gefühl in mir nun sogar Kraft. Ich warf einen abschätzenden Blick hinunter. Ich hatte doppelt Glück: erstens, weil der alte Wirt mich im ersten und nicht im zweiten Stockwerk einquartiert hatte – und zweitens, weil sich nur ein paar Fuß unter mir das Dach eines kleinen Vorbaus befand, der dem einsamen Wachposten vermutlich Schutz vor Regen spenden sollte. Ich ließ mich der Länge nach hinab. Erneut war mir das Glück hold – nur ein paar Fingerbreit trennten meine Stiefelspitzen nun noch von dem Dach unter mir. Ich atmete tief durch und löste den Griff meiner Hände vom Fenstersims. Ein dumpfer Aufprall folgte, hörbar, aber nicht laut genug, um als verdächtig wahrgenommen werden zu können. Jetzt musste ich schnell sein. Jede Sekunde, die ich hier draußen verbrachte, konnte eine Sekunde sein, in der jemand auf mich aufmerksam werden könnte. Leisen Schrittes überquerte ich den kleinen Vorbau und ließ mich am Rand hinunter. Ein Windstoß brachte den Saum meiner Vagabundengewandung zum Flattern, so als ob sich die Natur entschlossen hätte, die Szenerie passend zu untermalen.

Der Stall, in dem die beiden Primitivlinge ihre Pferde untergebracht hatten, befand sich nun unmittelbar vor mir. Er war ein unscheinbarer Anbau an der Taverne, die in perfekter Stille im Blau der Nacht lag. Als ich mich näherte, vernahm ich schweren Pferdeatem, Hufschaben und das Knistern von Heu. Vorsichtig zog ich am Eisengriff der Tür. Sie ließ sich problemlos öffnen. Ihr mögt Euch an dieser Stelle nun fragen, warum eine offene Stalltür in einer ländlichen Taverne bei mir keinen Argwohn hervorgerufen hat, und die Frage ist berechtigt. Jedoch war ich zu eingenommen von der lodernden Entschlossenheit, die mein wagemutiger Racheplan in mir hervorgerufen hatte. Also schlich ich hinein. Nur fünf Pferde befanden sich im Stall, von denen zwei schliefen. Ein grauer Gaul, der sich in einem Stallabteil gleich neben der Tür befand, begutachtete mich mit bei meinem Eintreten mit einem Gesichtsausdruck, der sich am besten als Skepsis beschreiben ließ, widmete sich dann aber wieder dem Kauen seines Heus. Es war kein Schweres, die beiden Rösser meiner Peiniger durch rasche Blicke in die einzelnen Stallkammern zu finden, nachtschwarz und muskulös, wie sie waren. Sie befanden sich am äußersten Ende des Pferdetrakts, in einer von einer morschen Holztür abgeriegelten Stallkammer. Nun war der Moment gekommen. Vorsichtig ging ich vor der Kammer des ersten Rosses in die Knie, den Futtertrog des Tieres in Reichweite. Ich konnte mich eines Gefühls des Neides nicht erwehren, als ich das prächtige Tier aus der Nähe begutachtete. Es handelte sich um einen Skarraggschen Felsenhengst, das konnte selbst ein Laie wie ich erkennen. Für einen Moment haderte ich mit mir. Wer waren diese Männer, dass sie sich derart edle Pferde leisten konnten? Und was würde mir blühen, wenn sie irgendwie doch davon Wind bekamen, dass ich hinter dem, was sie am nächsten Morgen vorfinden würden, steckte? Vielleicht ist all das ja das erste Mal in deinem Leben, dass du Mut beweist! Die beiden Mistkerle haben eine Lektion in Sachen Demut verdient!

Natürlich … Die Stimme in mir hatte Recht. Ich hatte Recht! Jetzt zu drucksen wäre eine Feigheit, mit deren Schande ich nicht leben wollte. Oh ja … die beiden hatten eine ordentliche Lektion in Sachen Demut verdient, und die würde ich ihnen geben.

Meine Finger glitten in den Lederbeutel an meiner Hüfte, ertasteten das kleine Fläschchen und zogen es hervor. Scheerkappenstaub. Die namensgebenden Pilze wuchsen bevorzugt in spärlich begrünten, steinigen Landschaften, und die Klippe, auf der sich Nebelhaim befand, war genau eine solche Gegend. Der Einsatz dieser Pilze war eines der ersten Dinge gewesen, die mich Mater Pyléa in meiner Zeit als dörflicher Novize gelehrt hatte. Vermischte man den trockenen Puder mit Flüsterbaumharz, ergab sich eine klebrige Masse, die, auf einer offenen Wunde verteilt, den Heilvorgang um ein Vielfaches beschleunigte. Da Flüsterbäume in fast jeder Region Enderals – außer in dem Ödland Thalgards, den Nordwindbergen und der Pulverwüste – wuchsen, empfahl es sich also, stets ein Fläschchen mit konzentriertem Scheerkappenstaub auf längere Reisen mitzunehmen. Kenntnis über das richtige Mischverhältnis vorausgesetzt, bot dieses kleine Fläschchen einem Schutz vor allerlei körperlichen Leiden und Gebrechen, allem voran Wundentzündungen. Allerdings hatte der Staub der Kappe noch einen weiteren Effekt, um den das gemeine Volk nicht wusste: Gelangte er in einer zu hohen Konzentration in den Magen eines oder einer Unglückseligen, löste er etwas aus, was sich am besten als „Wutkaskade“ bezeichnen lässt. Das bedeutete nichts weniger, als dass das Empfinden sämtlicher eher unerfreulichen Gefühle wie Trauer, Hass und Zorn um ein vielfaches verstärkt wurde. Ein jähzorniger Mann verlöre unter dem Einfluss des Pilzes beispielsweise viel schneller die Kontrolle, als er es ohnehin schon tat. Eine trübsinnige, herzensgebrochene Frau hingegen empfände unter seinem Einfluss ihr Leid über kurz oder lang als derart unerträglich, dass sie einen totalen Zusammenbruch erleiden würde. Heutzutage weiß ich, dass die Wirkung konzentrierter, dem Essen beigemischter Scheerkappe in etwa den Gefühlszuständen gleicht, die ein geübter Psioniker bei seinen Feinden hervorzurufen vermag, mit dem einzigen Unterschied, dass der Pilzstaub gute sieben bis acht Stunden braucht, bis der Effekt eintritt. In diesem Fall jedoch kam mir die lange Entfaltungszeit zugunsten, wie ihr Euch sicherlich denken könnt. Mein Plan sah vor, dass die beiden Grobiane morgen voller Arroganz und Übermut auf ihre teuren Rösser stiegen und inmitten des Galopps von ihren benebelten Pferden vom Sattel geschmissen würden. Die Pferde würden aller Wahrscheinlichkeit nach davonrennen, und die beiden Hünen ordentliche Prellungen oder – und zu jenem Zeitpunkt schockierte mich die Genugtuung, ja, die Lust, mit der ich an diese Eventualität dachte – einen üblen Knochenbruch davontragen.

Ein Lächeln formte sich um meine Lippen, als ich das Fläschchen entkorkte und mich dem Gehege der beiden schlafenden Pferde näherte. Ich musste nicht lange nach dem Futternapf suchen. Bei dem Inhalt schien es sich um eine Pampe aus Heu, zerstampften Äpfeln und ranzigem Wasser zu handeln, aller Wahrscheinlichkeit nicht gerade die Speise, welche die prächtigen Tiere gewohnt waren, aber dennoch schmackhaft genug, um ihren Appetit zu wecken. Ich ging vor dem Eimer in die Hocke, der am Ende des Ganges zwischen den beiden Gehegen stand, kippte zwei kleine Häufchen des Staubes in meine Hand und mischte sie unter das Futter. Dann trug ich den Kübel zum Gehege, wedelte ihn ein wenig vor den Nasen der Tiere umher und murmelte dazu etwas, was ich als angemessenes Geräusch erachtete, um ein Schlachtross gemächlich aus seinem Schlummer zu wecken. Ich musste nicht lange warten. Träge öffnete das erste Pferd seine Augen und bedachte mich mit einem undefinierbaren Blick. Dann, als ob ihm die geistige Einordnung meiner Wenigkeit zu viel Arbeit zu jener späten Stunde war, schüttelte es müde den Kopf, ließ die Lippen flattern und tunkte seinen Kopf in den Krug. Es funktioniert … Verdammt nochmal, es funktioniert! Die Vorfreude, die ich bereits beim Betreten des Stalles gespürt hatte, vermischte sich jetzt mit einem glühenden Gefühl des Triumphes, und ich fühlte mich lebendiger als ich es je zuvor getan hatte. Seltsam, nicht wahr? Da war ich, ein junger Priester von knapp dreißig Wintern, und spielte zwei Grobianen, die mir eine Abreibung verpasst hatten, einen Streich. Aber anstatt mich lausbübisch oder keck zu fühlen, fühlte ich mich wie eine Inkarnation der Gerechtigkeit, ein Racheengel, der gerade durch seine Tat ein Wesentliches zur Besserung der Menschheit beigetragen hatte. Tja, so fügten sich die Umstände … Und der erste Schmetterling flog, wie die verschleierte Frau sagen würde. Ich war viel zu eingenommen von meiner Genugtuung, als dass ich meine Umgebung auch nur wahrnahm. So kam es auch, dass ich die schweren Stiefelschritte hinter mir erst hörte, als es schon zu spät war.

Ich spürte eine schwere Pranke auf meiner Schulter. Und als ich erschrocken meinen Kopf wendete, beging ich meinen ersten Fehler. Hatte der Freibeuter mich ob der Dunkelheit noch nicht genau identifizieren können, so erkannte er nun mein ihm zugewandtes Gesicht umso besser. Scheinbar benötigte er keine Sekunde, um zu begreifen, was ich da tat.

„Mieses Drecksschwein!“, fauchte er mir entgegen, halb Feststellung und halb Frage. Sein nach Alkohol stinkender Atem war das letzte, was ich hörte, bevor er mir seine rechte Faust, ohne eine Antwort abzuwarten, ins Gesicht schmetterte. Ich hörte ein berstendes Knacken und spürte, wie ein flammender Schmerz an meinem Gesicht emporschoss. Die Wucht des Hiebes warf mich zurück, sodass ich inmitten des spärlich auf dem Boden verteilten Heus landete. Mein Kopf dröhnte, als wären die Säulen des Sonnentempels auf ihm zerborsten.

„Elender Hurensohn!“, hörte ich den Freibeuter inmitten des lauten Summens schreien. „Du hast wohl noch nicht genug gehabt? Hä?“ Ich ächzte vor Schmerzen und versuchte, mich mit meinen Händen nach vorne zu robben. Augenblicklich spürte ich einen explodierenden Schmerz in meiner rechten Seite, als mir der Hüne seinen harten Lederstiefel in die Seite schmetterte. „Hä? Was ist dein Problem, du mieses Stück Scheiße?“, schrie er in voller Rage. „Was ist dein verdammtes Problem?“ Ein weiterer Stiefeltritt, diesmal auf Höhe meiner Rippen. Ich hörte, wie sie geräuschvoll knackten, und für einen Augenblick konnte ich nicht atmen. Narr genug, nicht zu verstehen, dass die „Fragen“ des Freibeuters weniger Fragen als Ausdrücke seines Zorns waren, hob ich mit unter Qualen meine rechte Hand und versuchte, so etwas wie eine Erklärung für mein Hiersein zu stammeln. Das Ergebnis war ein Stiefeltritt auf meinen Kopf, der mein Gesicht auf den harten Steinboden schmetterte. Ich spürte, wie mir heißes Blut von Stirn, Wangen und Nase herunterlief, und mir wurde schwarz um die Augen. Mit letzter Kraft krümmte ich mich zusammen wie ein Kind im Bauch seiner Mutter, um so die Wucht der Schläge besser ertragen zu können. Narr, elender, jammerte ich in Gedanken. Du verdammter Narr! Er wird dich umbringen, verflucht nochmal, er wird dich umbringen! Immer wieder schossen mir diese Gedanken gebetsmühlenartig durch den Kopf, während ich den nächsten Stiefeltritt des Freibeuters erwartete.

Doch er kam nicht. Verwirrt versuchte ich, zwischen dem Blut in meinen Augen etwas in der Dunkelheit zu erkennen. Der Hüne hatte sich von mir abgewandt und kniete nun vor seinem Pferd, das er besorgt streichelte. Die Worte, die er ihm auf beruhigende Art und Weise zuflüsterte, standen im krassen Kontrast zu den animalischen Schreien, die er während der Schläge ausgestoßen hatte. Er nimmt mich überhaupt nicht wahr, schoss es mir unter all meinen Schmerzen plötzlich durch den Kopf. Er registriert mich nicht mal als Bedrohung!

Was dann geschah – und allem voran, was ich dabei empfand – wird schwer sein, in Worte zu fassen.

Ich erinnere mich daran, dass sich ich plötzlich die ledrige Scheide meines Eisendolches an meinem Bauch spürte. Ich hatte es für klug gehalten, den Dolch verborgen zu halten, und ihn auch nur deshalb nicht in meinem Zimmer in der Taverne gelassen, weil ich schlicht und einfach vergessen hatte, dass ich ihn bei mir trug. Dann geschah alles schneller, als ich denken konnte. Instinktiv, animalisch. Wer schon einmal eine von zahlreichen Prügeleien gestählte Faust auf die Nase geschmettert bekommen hat, der weiß, wie schmerzhaft es sich anfühlt. Aber dennoch verschwand plötzlich mein sämtliches Schmerzempfinden, und ich spürte, wie sich das flaue Gefühl in meinem Magen, das sich zu Beginn meiner gescheiterten Racheaktion in eine Art Vorfreude und Entschlossenheit verwandelt hatte, umzuformen begann. Ja, wenn ein Gefühl etwas wie eine Gestalt hat, dann wandelte es sie, nachdem ich jene letzten Gedanken gedacht hatte. Ich spürte, wie ein unermesslicher Zorn in mir aufstieg. Degenerierter Bastard, schoss es mir durch den Kopf. Erst demütigst du mich ohne Grund vor allen anderen, und jetzt wagst du es, mich um meine Rache zu bringen? Der Zorn in meinem Magen begann zu glühen, zu lodern, ja, zu brennen, und ich fühlte, wie er sich in mir ausbreitete und mir an meinem ganzen Körper binnen weniger Sekunden der blanke Schweiß ausbrach. Ich zitterte. Dafür würde er zahlen, dieser Untermensch, dieses wertlose Stück Dreck, das einzig und allein mit seinen aufgedunsenen Oberarmen und seiner Statur wegen meint, für ihn gelte kein Gesetz! Ja … Manche Menschen haben sich ihren Platz auf dieser Welt nicht verdient! Leise und vor Wut bebend zog ich meinen Dolch aus der Scheide. Mein Arm sah von den Tritten seltsam verbogen aus, aber ich ignorierte den Schmerz, ja, er existierte nicht mehr. Es gab nur noch mich und den Feind. Dann war ich auch schon bei ihm. Mit einer Wucht, die ich meinen schmächtigen Armen nicht zugetraut hätte, rammte ich dem Primtivling den Dolch in den Rücken. Überrascht und fassungslos keuchte der Gorilla und drehte sich um. Diesmal war von Häme und Spott in seinem Blick nichts zu sehen. Nein, stattdessen sah ich Fassungslosigkeit, als sei dies, was im Begriff war zu geschehen, etwas, das sich außerhalb des Möglichen befand. Dann wich sie blanker, animalischer Wut. Mit beiden Händen packte er mich am Hals und hob mich empor, so dass ich von ihnen herabbaumelte wie ein Todgeweihter vom Henkersstrick. Der Dolch steckte unbekümmert in seinem Rücken, als wäre er dort seit dem Tag seiner Geburt. Ich spürte, wie er versuchte, mir die Luft abzuschnüren, aber in dem Moment, in dem ich seine Augen sah, wusste ich, dass die Lebenszeit des Mannes gezählt war. In mir brannte es, mit zerstörender, archaischer Gewalt, und eine Mischung aus Zorn, Siegessicherheit und Euphorie durchflutete meine Adern, meinen Geist, jeden Winkel meines Körpers, alles verzehrend und tödlich. Mit voller Wucht rammte ich meine Stiefelkappe zwischen seine Beine. Augenblicklich stieß der Mann einen entsetzten Schrei aus, löste den Griff um meinen Hals und sank in sich zusammen. Ich zögerte keine Sekunde. Blitzschnell packte ich den Dolch, der in seinem Rücken steckte, und zog ihn mit einem kraftvollen Ruck hervor, nur um ihn dem Mann erneut an einer anderen Stelle wieder in den Rücken zu rammen. Diesmal stieß ich auf Widerstand, woraufhin ich die Stichrichtung des Dolches im Körper des Hünen änderte und ihm eine ruckartige Drehbewegung verpasste. Der Mann schrie auf, und diesmal hatte der Schrei nichts menschliches mehr an sich. Kraftlos und desorientiert versuchte er, sich mittels seines Körpergewichts rückwärts auf mich zu werfen, aber es war vergebens. Du wagst es, dich deiner Strafe zu entziehen?, geiferte die Stimme in meinem Kopf. Nach all dem, was du mir angetan hast, wagst du es nun, dich zu widersetzen? Hä?! Die Klinge meines Dolches schoss erneut hinab und traf den Mann diesmal im Oberschenkel. Wieder taumelte er benommen hin und her und keuchte etwas Unverständliches. Diesmal setzte er zu keinem Gegenangriff an, sondern sank erschöpft auf die Knie und begann zu wimmern. Er will, dass ich aufhöre!, schoss es mir durch den Kopf, und ein wahnsinniges, triumphales Grinsen zog sich über mein Gesicht. Dieses Miststück erwartet allen Ernstes Gnade! Ich gewährte sie ihm nicht. Stattdessen stürzte ich mich auf ihn und warf ihn zu Boden. Ich kniete nun über ihm, und für einen kurzen, skurrilen Moment musste ich daran denken, dass ein Fremder, der just in diesem Moment unsere Silhouetten sah, uns für ein Paar beim Liebesspiel halten musste. Ein Lachen entwich meiner Kehle, und dann ein weiteres, lauteres. Wie er da vor mir lag! Der große, erbarmungslose Hüne mit dem stählernen Ross, das sich keinen Deut um ihn zu kümmern schien, sah mich mit furchterfüllten, delirösen Augen an wie ein Junge, der im Begriff war, von seinem Vater eine ordentliche, wohlverdiente Tracht Prügel zu empfangen. „Bitte … bitte nicht“, flüsterte er, und das Blut quoll ihm aus dem Mund hervor.

Was dann geschah, wird schwer in Worte zu fassen sein. Zuerst überkam mich eine Welle dämonischer Freude, die von meinem Körper Besitz ergriff und mich in manisches Gelächter ausbrechen ließ. Ich legte meinen Kopf in den Nacken und lachte laut und schallend, und eine rauschesgleiche Ekstase durchflutete jeden Knochen, jede Vene, jeden Winkel meines Körpers. Beim schwarzen Wächter, was fühlte ich mich lebendig! Mir war, als hätte ich Zeit meines Lebens mit einem Schleier vor den Augen gelebt, den ich mir nun von den Augen gerissen hatte, ja, als hätte ich all die Jahre lang einen Schatten auf der Wand für das, was ihn warf, gehalten! Wie ein Priester, der ein Opferlamm schlachtet, packte ich den Griff des Dolches mit beiden Händen, hob ihn über meinen Kopf und ließ ihn in erneut die Brust des Degenerierten hinabsausen. Und just in dem Moment, als das schneidende Geräusch in Fleisch eindringenden Stahls erklang, geschah etwas, das mein Leben ein für alle Mal verändern sollte. Für einen kurzen Augenblick wurde ich zu dem Mann, den ich tötete. Ja, ich wurde zu ihm und blieb gleichzeitig ich selbst, so paradox das für Euch klingen wird. Zuerst erschien schlagartig eine Woge mir unbekannter Erinnerungen in meinen Gedanken. Ich sah den Hünen, das Blut eines Mannes mit skaraggschen Gesichtszügen auf seinen Händen; ich sah ihn in einem dunklen Raum, ein schwarzes Stück Stoff in seiner Hand, weinend; ich sah ihn zusammen mit seinem Kumpanen – es war sein Bruder – in einer großen, steinernen Halle, Teil eines Zirkels aus Menschen, die sich allesamt an den Händen hielten. Jedes dieser Bilder erschien mit der Wucht eines Hammerschlages, und mit jedem neuen Bild, das mir erschien, wurde das Kribbeln in meinem Körper intensiver, die flammende Wonne in meinem Körper stärker, und die Manie, die meine Taten lenkte, verzehrender, größer und kontrollierender. Nähre mich, schrie der dunkle Teil meiner Selbst, mit jedem Bild, das mir erschien, lauter und stärker. Nähre mich mit seinen Flammen!

Mit zittrigen Händen und mit heißem Schweiß auf meinem ganzen Körper riss ich den Dolch aus dem nun toten Körper des Hünen unter mir, nur um ihn mit dreifacher Wucht erneut in seine Brust zu rammen. Und wieder brach in genau jenem Moment, in dem der Dolch ihn traf, sintflutartig eine Woge neuer Bilder in meinen Kopf, sich im Rhythmus eines adreanlinberauschten Herzschlages mir offenbarend und mir mit jedem neuen Bild eine Steigerung meiner Ekstase schenkend. Ich gab einen Laut von mir, der ein Seufzer der Wonne hätte sein sollen, aber als manisches, dämonenartiges Krächzen meinen Mund verließ. Beim rechten Weg, was für ein nie dagewesenes Gefühl des Rausches ich erlebte! Ich lebe!, schrien meine Gedanken, während ich die Klinge wieder zum Stich anhob. Ich lebe und ich RICHTE! Erneut raste die Klinge hinab und drang in das leblose Fleisch unter mir ein. Erinnerungen. Ekstase. Sein roter Lebenssaft in meinem Gesicht, heiß und klebrig, aber es kümmerte mich nicht, nein, nichts kümmerte mich noch, denn ich würde ihn richten, töten, bestrafen! für seine Sünden, Stich für Stich, Erinnerung für Erinnerung, bis nichts mehr von ihm übrig war, nichts als kalte, leblose ASCHE!!

Selbst jetzt, knapp ein Jahr nach meiner ersten Tötung, spüre ich, wie meine Handflächen feucht werden und sich mein Atem beschleunigt, wenn ich jene Erinnerung herbeirufe; die Tinte wird dunkler, die Feder bricht ab. Aber dennoch werdet Ihr meine Gefühle als Verdammter nicht mehr als nur rational nachempfinden können; die Gründe dafür sind mannigfaltig. Zum einen stößt Euch mit einer hohen Wahrscheinlichkeit ab, was ich beschreibe. Dies tut es zu recht, schildere ich doch eine barbarische Tat auf eine beinahe zelebrierende Weise – dennoch ist dies der einzige Weg, Euch meine Gedanken zumindest ansatzweise verständlich zu machen. Der zweite Grund jedoch, und dieser bedingt den ersten, ist der, der am schwersten wiegt:

Es gibt Dinge, die man nur dann wahrhaft verstehen kann, wenn man sie selbst einmal erlebt hat. Zu ihnen zählen Sex, der Rausch der Schmerzen in einem tödlichen Kampf, und nicht zuletzt das Ende des Lebens selbst, der Tod. Wie vorzüglich können wir doch vor allem über Letzteren sinnieren, uns Erklärungsmodelle für seine Natur schaffen – ob diese nun aus dem Pfad, den Gesängen der Mönche aus Arazeal oder aus der Ratio eines Philosophen entspringen, macht dabei keinen Unterschied –, aber letzten Endes werden wir ihn erst wahrhaft verstehen, wenn er uns ereilt. Die Ekstase, die meinen Körper für jenen kurzen Moment ergriff wie der blaue Tod den Verstand eines Wildmagiers, war alles der oben genannten Dinge und doch keines davon. Es war das Feuer. Es füllte mich aus, es brannte in jedem Winkel meines Körpers. Jedes meiner Gliedmaßen fühlte sich siedend heiß an, und mein Herz hämmerte wie vom Wahnsinn ergriffen an die Innenseite meiner Brust heran. Was ich tat, erschien mir auf morbide Art und Weise wundervoll, erhebend … ja, sogar erregend, auf eine perverse Art und Weise sexuell. Keine Sekunde lang dachte ich während des Aktes des Tötens daran, etwas Falsches zu tun, nein es gab kein Richtig und Falsch in jenem Moment, es gab nur mich und diese treibende Macht in mir, die jenseits von Göttern, Dämonen und den Gesetzen dieser Welt zu stammen schien. Ich war der Richter, mein Wille mein Schwert, und der Mann der Verurteilte. Mehr gab es nicht. Jede meiner Bewegungen war instinktiv, archaisch, pur. Was ich tat, war nichts weiter als die Konsequenz jener sich ineinander verschachtelten Umstände, und genau wie ein Wolf, der ein Lamm reißt, tat ich einzig und allein das, was Jaél Geberssohn in diesen Moment tun musste.

Zumindest bis das Feuer erlosch.

Wie spät mochte es gewesen sein? Der Hahnenschrei stand noch bevor, aber dennoch zwitscherten vereinzelt ein paar Vögel in dem dichten Wald am Rande der Weizenfelder. Eines der Rösser schlief entgegen aller Gesetze des Klanges nach wie vor, das andere schabte lediglich ungeduldig mit den Hufen auf dem Heuboden. Ich hatte mich seit dem letzten Stich keinen Zentimeter bewegt. Der Mann, der mich einige Stunden zuvor noch verspottet hatte, lag unkenntlich zugerichtet unter mir, und das dunkle Blut auf meinen Händen hatte begonnen zu trocknen. Unbewegt und starr wie eine Wachspuppe kniete ich über meinem Werk. Irgendwann hatte ich etwas empfunden, was sich am besten als „Zenit“ bezeichnen lässt. Wie bereits beschrieben hatte ich mich mit jedem Stich brennender, rauschesgleicher, ekstasischer gefühlt. Die Flammen in mir waren gewachsen, gewachsen, und gewachsen. Dann fühlte ich mich, als schoss von meinem Magen hinauf bis in meine Augen eine gigantische, infernalische Flammensäule in mir hervor, lodernd, heiß, alles versengend.

Danach war langsam mein Verstand wieder zurückgekehrt. Immer weniger dachte ich mit der diffusen Stimme meiner Gedanken, mehr und mehr war ich wieder Jaél Gerberssohn, gebürtiger Nebelhaimer, wegeloser Pater … und Mörder. Mir wurde klar, was ich getan hatte, aber wie ein Krieger nach einer nervenzerreißenden Schlacht war ich geistig und körperlich zu matt, um auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Also ließ ich den Dolch fallen, legte den Kopf in den Nacken, schloss die Augen und lauschte der Stille. Zehn Minuten vergingen. Fünfzehn. Eine halbe Stunde. Erst als Schritte in Richtung des Stalles zu vernehmen waren, erwachte ich aus meiner Starre, war aber unfähig, entsprechend zu handeln. Ein guter Junge wischt den Schmutz vom Teller, schoss es mir urplötzlich durch den Kopf. Langsam wandte ich meinen Blick. Es war der Kumpane des Freibeuters.

Einen kurzen Moment lang begann das Feuer in mir wieder zu glimmen, und ich lächelte den fassungslos auf das Blutbad starrenden Mann am Eingang beinahe gutmütig an. Dann verschwand es aber, zu müde, zu entkräftet, gesättigt. Die Pranke des Kumpanen wanderte zum Griff seines Schwertes, langsam und lethargisch.

Und plötzlich brach er mit einem erstickten, toten Seufzen zusammen. Ich blinzelte, zu apathisch, um das Geschehene vollends zu begreifen. Eine in dunkle Schatten gehüllte Gestalt stand unbewegt wie eine Statue hinter dem in sich zusammengefallenem Körper am Eingang. Dann setzte sie sich in Bewegung und kam auf mich zu. Der silberne Lichtstrahl eines von der Sonne fast besiegten Mondes erhellte das Gesicht der Figur.

Es war der Schönling.

Einige Schritte vor mir kam er zum Halt und stemmte seine Hände in die Hüften. Er wirkte auf mich wie ein Hafenarbeiter, der die Ladung musterte, die es nun in stundenlanger, schwieriger Arbeit vom Schiff zum Kai zu befördern galt. Dann lächelte er, wieder gewinnend, spöttisch und scharfsinnig zugleich.

„Du hast es also tatsächlich“, sprach er in einem angenehmen Bariton, fasziniert.

„Was?“

Der Schönling lachte auf.

„Na was wohl?“ Er hielt inne und schien für einen kurzen Augenblick geradewegs durch mich hindurch zu schauen. Dann trafen seine Augen wieder die meinen, und mir fiel eine seltsame Veränderung in ihnen auf, die ich zu jenem Zeitpunkt nicht zu verstehen wusste.

„Das Feuer.“