Nehrim:Das Dunkel zwischen den Bäumen

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Das Dunkel zwischen den Bäumen

Eine Legende aus dem Faltrind-Tal


Stück für Stück schichtete er die schweren Holzscheite um den großen Pfahl in der Mitte. Immer wieder ging er reihum und kontrollierte dabei sorgsam den Sitz und die Ausrichtung der Scheite gegeneinander. Neunmal hatte er den Kreis bisher geschlossen und fünf Schritt maß der Kegel mittlerweile im Durchmesser. Einmal noch würde er die Runde gehen und dann, so stellte er mit geschultem Blick zufrieden fest, konnte der Feuerschacht gesetzt werden. Langsam umrundete er den Meiler, suchte sorgsam die Stellen aus, an denen noch ein Scheit Platz hatte und stieg dann vorsichtig auf den Holzunterbau. Das Reisig, das er zuvor wahllos an den Pfahl in der Mitte geworfen hatte, schichtete er nun langsam zu einem kegelförmigen Haufen auf, wobei er es ab und an mit Holzspänen durchsetzte. Es dauerte einige Zeit bis der Feuerschacht aus Reisig und Spänen den richtigen Sitz und die richtige Form hatte. Immer wieder setzte er einen Packen um oder prüfte die Anordnung kurz mit den Händen. Jeder Griff war bewusst und das Ergebnis mehr als gekonnt. Jahre waren vergangen, seit er das erste Mal von seinem Vater die Arbeit eines Köhlers noch im Kindesalter gezeigt bekommen hatte. Damals war noch jeder Handgriff neu und die schwere körperliche Arbeit eine Qual gewesen. Seinen ersten Meiler hatte er im Alter von zwölf Wintern selbst geschichtet und ein Jahr später auch die erste Wacht über den Windzug übernommen. Es war harte Arbeit in einer harten Landschaft, doch es war Arbeit, die getan werden musste und die seine Familie seit mehr als drei Generationen vortrefflich verrichtete. Das Leben in der Wildnis des Faltrinden Tals war von Entbehrungen gezeichnet und so mancher, den die vermeintliche Idylle aus den Städten lockte, wurde sehr bald eines Besseren belehrt. Obwohl Wikk die ganze Zeit seines bisherigen Lebens in den Buchen- und Eichenwäldern des Faltrinden Tales verbracht und nichts anderes kennen gelernt hatte, wusste er sehr wohl um den schweren Stand in dieser Wildnis. Führten ihm doch immer wieder Reisende oder Bedienstete des Kanzlers vor Augen, dass es ein scheinbar unbeschwerlicheres Leben hinter den Wäldern des Tales gab. So sehr die Verlockung jedoch auch sein mochte, Wikk wusste, wo sein Platz in dieser Welt war und das Tal dankte ihm seine Beharrlichkeit mit dem Auskommen seiner Familie und einer Verbundenheit, die nur wenigen Menschen in ihrem Leben jemals zu Teil wurde. Sicherlich, das Tal war ein gefährlicher Ort, doch hatten seine Bewohner über die Jahrhunderte hinweg gelernt mit ihnen umzugehen. Die Unwägbarkeiten und alltäglichen Schwierigkeiten gehörten einfach zum Leben dieser Region Nehrims dazu und ein jeder hatte die Wahl, sich ihnen wieder und wieder zu stellen oder an ihnen zu Grunde zu gehen. Wikk gehörte eindeutig zu Ersteren.

Er hatte doch länger für den Feuerschacht gebraucht als zunächst angenommen. Es dämmerte bereits, als er den Kegel aus Holzscheiten hinab stieg und sein Werk einem abschließenden, prüfenden Blick unterzog. Sicherlich nicht seine beste Arbeit, doch für das noch junge Jahr mehr als ansehnlich. Morgen würde er damit beginnen können, die luftdichte Decke aus Gras, Moos und Erde aufzubauen. Langsam fuhr sich Wikk mit der von Brandnarben gezeichneten Hand über das schweißnasse Gesicht. Sein Tagewerk für heute war vollbracht und der Gedanke an ein einfaches aber reichhaltiges Essen zu Hause kam ihm in den Sinn. Hastig verräumte er das Werkzeug und bedeckte den noch offenen Meiler mit alten, eingefetteten Schafsfellen. Die Köhlerhütte und Meilerplätze waren nicht weit von der alten Kate, in der Wikk mit seiner Familie lebte, entfernt und so machte er sich müde aber dennoch fröhlich summend auf den Rückweg. Dieser führte ihn eine kurze Strecke durch lichtes Unterholz und anschließend auf einen alten, bereits stark überwucherten Holzweg. In diesem Teil des Faltrindtales gab es viele solcher Holzwege, die den hiesigen Holzfällern als Transportadern dienten. Einige wurden heute noch von Waldarbeitern genutzt, anderen wiederum sah man den Versuch der Natur an, den ihr durch beharrliche Menschenhand abgetrotzten Raum zurückzufordern. Der Holzweg zog sich einige hundert Meter in südlicher Richtung, danach machte er einen plötzlichen Knick und bog nach Osten hin ab. Wikk konnte die Biegung gerade in der Ferne ausmachen, als er unvermittelt stehen blieb. Er wusste nicht, was ihn aus seinen Gedanken gerissen hatte und so sah er sich verwirrt um. Unzählige Male hatte er diesen Weg bereits benutzt und niemals war ihm dabei etwas Seltsames oder Ungewöhnliches aufgefallen. Langsam bewegte er den Kopf hin und her und drehte sich dabei einmal um die eigene Achse. Er konnte spüren, wie sich seine Muskeln unbewusst anspannten. Etwas stimmte nicht. Wikk lauschte in die aufkommende Dämmerung hinaus. Er vernahm nur Stille. Kein Vogel sang sein abendliches Lied und kein Getier machte sich im Unterholz zu schaffen, ja nicht einmal die Bäume ließen ihr Laub zum sanften Wind des Faltrindtales tanzen. Wikks Nackenhaare richteten sich auf und beim Anblick der feuerroten Scheibe, die langsam über den Wipfeln der Bäume versank wusste er plötzlich, was mit der nahenden Dunkelheit einherging.

"Der Wandler...", flüsterte Wikk und seine Augen weiteten sich. Im Faltrindtal gab es viele Legenden und alte Geschichten. Der Wandler war eine davon. Jedes Kind in diesem Teil Nehrims kannte sie und ihre Wirkung zu abendlicher Stund am Kaminfeuer verfehlte sie nicht. Auf den ersten Blick war sie eine der üblichen Erzählungen, gemacht um die Jungen zu erschrecken und die Alten darüber schmunzeln zu lassen. Nur wer genauer hinhörte und hinter die Fassade der Gesichter zu blicken vermochte erkannte, das die Angst echt und das Unbehagen nahezu greifbar beim Lauschen der Geschichte war. Für jeden kam einst der Tag, da der Wandler die Grenzen zwischen Erzählung und Wirklichkeit überschritt, für die meisten bereits im Kindesalter. Wikk wusste darum, hatte er den Gang des Wandlers doch schon zweimal selber miterlebt. Das erste Mal war er noch ein kleines Kind gewesen, kaum älter als zwei Winter und noch zu klein um wirklich zu begreifen was geschehen war. Jedes dreizehnte Jahr erschien der Wandler im Faltrindtal und im fünfzehnten Sommer hatte Wikk den Schauer um dessen Ankunft am eigenen Leib gespürt. Er atmete langsam und tief durch. Seine Gedanken kreisten um den kommenden Schrecken dieser Nacht. Wikk hatte gewusst, dass dieses Jahr das Jahr des Wandlers war und obwohl er mit seiner Ankunft gerechnet hatte lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Ihm geht die Stille voraus. Der Klang des Lebens verstummt und grauenvolles Schweigen erfüllt die Welt. Die Worte seines Vaters kamen ihm in den Sinn. Der Wandler war hungrig, er hatte lange nicht gefressen. Einen abschätzenden Blick zwischen die Wipfel der Bäume werfend, rannte Wikk plötzlich los. Die Kate lag nicht mehr weit hinter der Wegbiegung im Osten. Er musste sie vor dem letzten Sonnenstrahl erreichen. Willkürlich fällt die Wahl des Wandlers, rief er sich wieder die Worte seines Vaters in Erinnerung. Wirkliche Regeln um den Griff des Wandlers zu entgehen gab es keine, doch mit der Zeit und über viele Generationen hinweg hatten sich ein paar Verhaltensregeln als äußerst nützlich erwiesen. Der Wandler kam niemals am Tage, seine Stunde war die Zeit des Zwielichts, der Moment der Dämmerung. Wer sich in diesen Augenblicken im Schutz der eigenen vier Wände und in Gesellschaft seiner Familie befand, hatte gute Aussichten, den morgigen Tag noch zu erleben. Der einsame Wanderer hingegen, fern von der Heimat und ohne Obdach ging mit ziemlicher Sicherheit in sein Verderben. Der Wandler nahm niemals mehr als drei Leben mit sich in den Strudel der Zeit. Niemand konnte mit Gewissheit sagen, was für ein Wesen der Dämmerläufer, wie er in manchen Ecken des Tales auch genannt wurde, war und selbst die Alten wussten auf die Frage zum Ursprung des Übels keine Antwort. Manche waren der Ansicht, der Wandler sei eine göttliche Konsequenz für das blasphemische Verhalten der Bewohner im Schatten der Abtei von Tirin. Andere wiederum sahen in ihm die Strafe für ein lang vergangenes Unheil, dass einst im Faltrindtal seinen Anfang nahm. Wikk wusste es nicht und im Moment wollte er auch keinen Gedanken daran verschwenden. Der Dämmerläufer kam und mit ihm der unweigerliche Verlust von Leben. Er musste nun alles daran setzen, dass seiner Familie nichts Böses geschah. Obwohl Wikk erst einige Schritte zurückgelegt hatte war er bereits vom Schweiß durchnässt. Mehr die Angst denn die körperliche Anstrengung trieb die salzige Körperflüssigkeit aus seinen Poren und mit jedem Atemzug wurde es schlimmer. Wikk beschleunigte seinen Lauf. Die Wegbiegung war bereits deutlich zu sehen. Mittlerweile konnte er fast keinen klaren Gedanken mehr fassen. Immer wieder hatte er das Bild seiner Frau Tulrin vor Augen, die die kleine Bjala schützend in ihren Armen hielt und er musste sich eingestehen, dass er die Ankunft des Dämmerläufers unterschätzt hatte. Schlimmer noch, er hatte sich selber bei weitem überschätzt. Die Angst, seine Liebsten zu verlieren schien ihn für einen kurzen Moment beinahe in den Wahnsinn zu treiben und nur mit einer gewaltigen Willensanstrengung gelang es Wikk, die drohende Panik niederzukämpfen. Gehetzt sah er immer wieder nach links und rechts ins Unterholz, als warte der Wandler bereits im Dunkel zwischen den Bäumen. Im nächsten Moment erreichte er die Wegbiegung und ließ sie mit vier weit ausholenden Schritten hinter sich. Die Kate lag noch einmal zweihundert Schritte dahinter und Wikk erkannte sofort die vertrauten Umrisse des alten Hauses. Im Laufen schickte er ein Stoßgebet zu Tyr und bat inständig darum, Tulrin habe die Ankunft des Dämmerläufers eben so gespürt wie er. Der einzig sichere Ort, wenn es denn überhaupt einen gab, war nun der Schoß der Familie und die eigenen vier Wände. Plötzlich beschlichen Wikk jedoch Zweifel. War das wirklich alles was er tun konnte? Die Türen und Fensterläden hinter sich verschließen und den Weg des Wandlers zitternd und bangend über sich ergehen lassen? Der Dämmerläufer würde kommen und sicherlich nicht vor einer alten Tür und modrigen Holzfenstern halt machen. Er könnte die Ziege aus ihrem Verschlag holen und vor dem Haus anbinden. Der Wandler ist hungrig, ihm giert nach Leben und eine Ziege wäre vielleicht ein willkommenes Opfer. Verzweifelt suchte Wikk in Gedanken einen Ausweg. Den Verlust der Ziege würden sie in den warmen Monaten nicht allzu sehr spüren, doch konnte er im Winter Hunger oder gar den Tod bedeuten. Wikk wusste das und nicht zuletzt aus diesem Grund verwarf er den Gedanken sofort wieder. Irritiert bemerkte er wie sich sein Tempo plötzlich verringerte und noch ehe er wusste wie ihm geschah blieb er schließlich stehen. Sein Verstand hatte eine weitere Möglichkeit erfasst, noch ehe sie ihm wirklich bewusst geworden war. Eine Möglichkeit, die ihm umso falscher und unrechter erschien, je klarer er deren Ausmaße in Gedanken greifen konnte. Zunächst sträubte sich ein Teil seines Wesens dagegen, diese Alternative auch nur im Ansatz zulassen zu wollen, doch angesichts des bevorstehenden Grauens und seiner schutzlosen Familie ebbte sein innerer Widerstand deutlich und schnell ab. Am Ende war davon nichts mehr zu spüren und nur noch ein seichtes Glimmen irgendwo tief in seinem Herzen verborgen erinnerte an den törichten Versuch, in dunklen Zeiten ein wenig Menschlichkeit zu wahren. Wikk rannte los und sein Blick huschte dabei immer wieder zwischen das Unterholz am Rande des Holzweges. Er brauchte nicht lange zu suchen. Ein paar Schritte weiter fand er den schmalen Durchlass, den die beiden Wanderer aus Erothin noch am Mittag genommen hatten. Der Durchlass führte auf einen alten, nur noch selten genutzten Waldpfad, der über kleine Kehren und Biegungen bis hinauf zur Abtei Tirin führte. Tulrin und er waren den beiden zur Mittagszeit begegnet und nach einem kurzen, freundlichen Austausch von Höflichkeiten war klar gewesen, dass die Wanderer die Abtei zum Ziel hatten. Sie wollten den Aufstieg jedoch erst am Morgen des nächsten Tages beginnen und Wikk beschrieb ihnen eine Raststatt unweit des Durchlasses, vor dem er nun stand. Für einen kurzen Moment wurde sein Herz noch mal schwer. Ein Schatten legte sich auf sein Gesicht, doch mit einer herrischen Geste wischte er die letzten aufkeimenden Skrupel beiseite und schritt durch das lichte Unterholz auf die andere Seite des Holzweges. Der Lagerplatz lag wenige Meter hinter dem Durchlass, knapp unterhalb eines Findlings, über dem zwischen den Wipfeln der Bäume die Turmspitzen der Abtei zu sehen waren. Wikk rannte nicht mehr sondern war darauf bedacht jedes unnötige Geräusch zu vermeiden. Die Aufmerksamkeit der Wanderer nun auf sich zu ziehen würde einen für ihn durchaus unangenehmen Erklärungsversuch nach sich ziehen. Er wollte sich nur vergewissern, dass die beiden nach wie vor an der Stelle lagerten und sich dann still und heimlich wieder zurückziehen. Vorsichtig setze er einen Fuß vor den anderen, den Waldboden vor sich dabei aufmerksam begutachtend. Ein falscher Schritt in trockenes Laub oder Astwerk würde ihn vermutlich verraten und das war das letzte, was Wikk nun in all der Eile noch gebrauchen konnte. Nach wenigen Augenblicken hatte er die Stelle erreicht und sachte, die Luft anhaltend ging er in die Knie. Langsam schob er einen langen, beinahe bis an den Boden reichenden Ast beiseite, dessen Blattwerk ihm die Sicht versperrte. Stumm ging sein Blick suchend über den Platz und zu seiner Beruhigung stellte er fest, dass die Wanderer ein Lager für die Nacht aufgeschlagen hatten. Ein kleines Feuer, eingefasst von groben Steinen knisterte bereits in der aufkommenden Dämmerung und darüber hing ein kleiner, dampfender Kessel. Einer der beiden, der sich Wikk als Alswin vorgestellt hatte, saß vor dem Feuer und stocherte mit einem Ast in der Glut umher. Der andere, Ferntal, kniete vor einem Bündel. Die beiden sprachen kein Wort, doch die abgeklärte Art und Weise, mit der sie zu Gange waren machte Wikk klar, dass sie nicht das erste Mal gemeinsam durch das Land zogen. Es mochten Gelehrte aus Ethorin sein, auf dem Weg zu den Mönchen der Abtei um sich mit ihnen über die Lehren des Lebens auszutauschen oder gar theologischen Diskussionen hinzugeben. Wikk wusste es nicht und gerade als er begann darüber nachzudenken wurde ihm klar, das er es gar nicht wissen wollte. Am liebsten hätte er auch ihre Namen und Gesichter vergessen, würden sie doch nun für alle Zeit Zeugnis seines Vergehens an der Menschlichkeit sein. Ihn fröstelte plötzlich und es lag nicht nur an der bevorstehenden Ankunft des Dämmerläufers. Noch ist nichts geschehen, versuchte er sich zu beruhigen. Vielleicht würde der Dämmerläufer sie verschonen und eine andere Gegend des Faltrindtales heimsuchen. Die Wälder waren groß und das Land weitläufig. Die Chancen standen gut, dass der Wandler sich andernorts seine Opfer suchen würde. Wikk wollte es jedoch nicht auf den Zufall ankommen lassen. Die Gefahr für seine Familie war zu groß und die Beute hier für den Dämmerläufer mehr als leicht. Vorsichtig ließ er den Ast wieder vor sein Blickfeld schwenken und richtete sich auf. Von der Sonne war nur mehr eine schmale Sichel am Horizont geblieben und schnell machte er sich nun endgültig auf den Rückweg. Gerade noch rechtzeitig erreichte er den kleinen Hof, hastete an der Stallung für die Ziege vorbei und trat mit einem letzten großen Schritt durch die Holztür an der Front des Hauses. Tulrin stand nahe dem Kamin, die kleine Bjala ängstlich an die Brust gedrückt. Ihre Blicke trafen sich und Wikk war sofort klar, dass auch seine Frau die tödliche Stille des Wandlers bemerkt hatte. Selbst die kleine Bjala musste irgendetwas mitbekommen haben, denn ihr Blick war starr und kauernd. Ihren Kopf an die Schulter der Mutter gedrückt, klammerte sie sich krampfhaft an Tulrin fest.
"Der Wandler, er kommt", flüsterte Tulrin und Wikk nickte ihr nur stumm zu. Sofort hatte er sich wieder gefangen und den bemitleidenswerten Anblick seiner Familie verdrängt. Er ging hastig die wenigen Windaugen der Kate ab und verschloss deren hölzerne Läden. Dann warf er einen schweren Riegel in die dafür vorgesehenen Angeln an der Tür und stemmte noch einen schmiedeeisernen Schürhacken unter die Klinke. Tief durchatmend drehte er sich um, sein Blick traf dabei den Tulrins.
"Wikk, die Wanderer von heute Mittag, hast du..." Wikk schüttelte nur den Kopf und Tulrin merkte, wie schwer es ihm viel, ihr weiterhin in die Augen zu sehen. Sie konnte den Widerhall des Kampfes, der noch vor wenigen Momenten in seinem Inneren ausgefochten wurde, regelrecht spüren und beschloss nicht näher darauf einzugehen. Wikk war ihr dafür dankbar. Er atmete langsam und tief durch. Dass er sich noch mal um deren Aufenthalt in der Nähe der Kate versichert hatte verschwieg er. Tulrin würde es nicht verstehen und selbst wenn, die Last dieser Schuld war für zwei Schultern mehr als genug. Langsam trat Wikk auf seine Frau zu, küsste Bjala auf die Stirn und umarmte beide innig. Es wurde still in der Kate. Kein Geräusch drang mehr von außen herein und selbst das kleine Feuer im Kamin, dem einzigen steinernen Teil des Hauses, schien nicht mehr so laut und stark wie eben noch zu knistern. Wikk löste die Umarmung ein wenig und lauschte, den Kopf dabei in alle Richtungen drehend. Tulrin setzte gerade an etwas zu sagen, doch Wikk legte ihr rasch eine Hand auf den Mund und bedeutete ihr zu schweigen. Etwas näherte sich dem Haus. Stumm sah er zu Tulrin. Der Moment war gekommen. Nach außen vollkommen reglos verharrend, bebte er in seinem Inneren vor Anspannung und aufkommender Panik. In Gedanken betete er ohne Unterlass zu Tyr, dem ältesten und mächtigsten der Lichtgeborenen. Sie konnten jetzt nur noch abwarten und darauf hoffen, dass der Gang des Dämmerläufers an ihnen vorbei führte. Wikk hielt den Atem an. Etwas war vor der Tür. Er konnte es nicht sehen, er konnte es nicht hören, doch er wusste, dass das, was die Leute als Wandler oder Dämmerläufer bezeichneten, nun vor der Tür zur Kate stand. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Langsam nahm er die Hand, die noch immer auf Tulrins Mund lag, herunter. Auf dem Sims über dem Kamin hing ein alter Jagdspeer und Wikk widerstand nur schwer dem Impuls, danach zu greifen. Tulrin musste auf den gleichen Gedanken wie er gekommen sein, schüttelte sie doch langsam und mit ängstlichem, beinahe flehendem Blick den Kopf. Mit solch einer Waffe konnte man dem Wandler nicht Herr werden und allein der Versuch diesem Wesen entgegenzutreten war mehr als nur töricht. Der Dämmerläufer war nicht von dieser Welt und selbst die Mönche der Abtei von Tirin vermochten es nicht ihm zu trotzen. Am Ende würde schließlich nur das Schicksal allein darüber entscheiden, ob man den Gang des Wandlers überlebe oder nicht. Wikk wusste das, doch fiel es ihm im Angesicht des drohenden Todes seiner Liebsten schwer, die angeborenen Instinkte zu ignorieren. Diesmal war es Tulrin, die ihren Mann beruhigte. Sachte strich sie mit der Hand über seine Wange, den Kopf dabei zaghaft in ihre Richtung drückend. Seine Augen fanden die ihren. Wunderschönes Braun, in dem sich die Farben des vergangenen Herbstes widerspiegelten und die ihm einen schier endlosen Blick bis tief hinab in die Seele der Frau versprachen, die er liebte. Er fühlte sich plötzlich geborgen und langsam wich die Anspannung aus seinem Körper. Die warme Berührung an der Wange und dieser Blick voller Güte und Liebe gaben ihm Kraft und im nächsten Moment wusste er, dass das Böse, das noch immer vor der Tür zur Kate lauerte, diese Kraft nicht brechen konnte. Wikk konnte das Band, das ihn und seine Familie umgab förmlich spüren und selbst wenn der Dämmerläufer ihre Leiber nehmen würde, so musste er dennoch auf ihre Seelen verzichten. Vielleicht war gerade das der Grund, dass sich die Tür nicht öffnete. Der Wandler setzte seinen Weg fort und ließ Wikk, Tulrin und die kleine Bjala unberührt zurück.


Der nächste Morgen war genauso schön wie der vorangegangene. Die Sonne begann vor einem makellosen Himmel ihren Lauf und die Vögel sangen ihr Lied zum neuen Tag. Wikk war sehr früh aufgebrochen, doch hatte er das Morgengrauen abgewartet. Die Schatten waren noch lang als er die Lichtung auf dem kleinen Waldpfad betrat, der nach oben zur Abtei von Tirin führte. Bedrückt und mit einer großen Last auf den Schultern stellte er fest, dass Alswin und Ferntal nicht hier waren. Alles sah so aus wie noch zur Abenddämmerung am Tag zuvor. Selbst der Kessel hing noch immer über dem nun heruntergebrannten Feuer, doch von den beiden Wanderern fehlte jede Spur. Ihre Ausrüstung lag fein sortiert an den mit Reisig und Decken bereiteten, unberührten Schlafstellen und Wikk beschloss alles so zu belassen wie er es vorgefunden hatte. Der Dämmerläufer hatte seine Opfer gefunden und niemand würde jemals erfahren was aus ihnen geworden ist. Stumm wand sich Wikk um und ging langsam zurück zum alten Holzpfad. Entweder aus dem ehrlichen Wunsch heraus nach Aufklärung oder aber durch den verzweifelten Versuch des Bewusstseins, die eigene Schuld zu relativieren, dachte er noch lange über das Geschehene der letzten Nacht nach. Am Ende kam Wikk zu dem Schluss, dass der Gang des Wandlers eine Art Prüfung sei. Eine Prüfung, die zu guter letzt nur das Streben nach den wirklich wichtigen Dingen im Leben gelten lies und scheinbar hatten Wikk und seine Familie diese Prüfung bestanden.
Danach machte er sich auf den Weg zu seinem Meiler.