Nehrim:Die Graue Blüte - Band I

Aus Sureai
Wechseln zu: Navigation, Suche

< Nehrim: Gegenstände: Bücher

(26. Auflage)

Eine Frau schrie schmerzvoll auf. Einige Passanten schauten sich verdutzt um, doch gingen kurz darauf wieder ihren Tätigkeiten nach. Tief atmend wimmerte die Frau. Es schallte aus der Schneise heraus auf den nach Fisch stinkenden Marktplatz. Zahlreiche Händler boten eifrig ihre Ware feil. Einige warben mit lauten Rufen für ihr Angebot. Es war ein wirres Treiben. Eine Eskorte von Tempelwachen marschierte über den Platz. Auch sie nahmen diese Frau wahr. Laut und spöttisch rief der vorderste Wachmann: „Oh, mögen uns die Götter für die Geburt dieses Säuglings gnädig sein!“

Leise kichernd ging die Eskorte vorüber. Hinter ihr bildete sich eine Staubwolke, die sich rasch wieder auf das dreckige Pflaster niederlegte. Es war das schmutzige Pflaster des Armenviertels in Ostian. Die Sonne stand hoch am wolkenlosen, blauen Himmel. Die Möwen kreischten, die Wellen rauschten und es herrschte eine sengende und bedrückende Hitze – wie immer. Sanft wehte eine warme Brise vom Meer daher.
Die Wehen der Frau wurden immer stärker. Sie quetschte die Hand ihres Mannes zur Rechten, sodass er fast daran war, ebenso zu brüllen wie sie. Doch er liebte sie und durfte nicht loslassen. Er war ein recht junger, kräftiger Mann. Er saß schweißgebadet auf einem morschen Holzhocker und stand seiner Frau bei. Er sah sie mit seinen stechend blauen Augen sorgenvoll an. Die Frau versuchte lächelnd seinen Blick zu erwidern.
Ein weiteres, älteres Weib trocknete der Mutter die Stirn vom Schweiß und gab ihr unverständliche Anweisungen. Auch sie war äußerst angespannt.
Ein letztes Mal hob die Frau ihre Stimme. Ihre Wehen erreichten ihren Höhepunkt. Für einen winzigen Augenblick herrschte totale Ruhe. Laut seufzte die Mutter. Ihr Mann küsste sie sanft und sah sie überglücklich an. Seine Augen glänzten hell vor Tränen. So auch bei der Frau. „Ich danke dir, Feodor.“ flüsterte sie.
Die Hebamme setzte auch ein fröhliches Lächeln auf. Sie wickelte den Säugling in eine Leinendecke und überreichte ihn vorsichtig der Mutter. „Ein gesunder Junge!“ sagte sie. „Alles dran.“ „Auch dir danken wir von ganzem Herzen.“ sprach der Vater. Die Mutter nickte ihm bestätigend zu.
Die Hebamme verabschiedete sich höflich, packte schnell ihren Kram zusammen und trat aus dem dunklen Raum. Zum Fuße der Mutter stand ein maroder Schrank, links davon ein niedriger Tisch mit zwei Stühlen. An der gegenüberliegenden Wand, links neben dem Bett, stand der altertümliche Herd. Zwei winzige Fenster beleuchteten das Bett, auf dem die Frau mit ihrem geliebten Kind nun lag, spärlich. Feodor, der Vater, setzte sich zur Linken der Mutter mit auf das Lager und begutachtete seinen Sohn. Er entspannte seine linke Hand vom festen Griff seiner Frau. Es schien eine Ewigkeit zu vergehen, wie sie so dalagen.
Draußen lief das Treiben weiter, als wäre nichts geschehen. Es roch nach Fisch, die Sonne schien und es war laut. Die Menschenmenge auf dem Marktplatz setze unirritiert ihre Aktionen fort.

Eine ganze Woche verging. So oft es möglich war, lag die Familie geeint auf dem kleinen Bett. Die Eltern warteten bis der Junge seine Augen öfnete, doch es geschah bis dahin noch nicht. Sie machten sich Sorgen.
Früh am Morgen vergaß Feodor manchmal, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen. Er war am Anfang einer langen Ausbildung zum Schmiedemeister in einer Schmiede zum Tempel. Noch bezog er den Rang eines Lehrlings. Sein Meister stellte mit ihm als Gehilfen Waffen, Rüstungen, Ackergerät und Werkzeug her – alles für den Tempel. Dafür wurden sie nicht schlecht entlohnt. Der Meister behielt natürlich den Großteil. Er wohnte im ersten Stockwerk über der Schmiede in einer für das Armenviertel Ostians recht edlen Wohnung.
Feodor wohnte zwar mit seiner Frau und seinem Kind in einem einzigen kleinen, dunklen Loch, aber es gab immer genug Nahrung. Ein wenig Restgeld wurde sogar zurückgelegt. Die Eltern sparten beide für eine neue Wohnung in weiterer Nähe zum Tempel. Je näher man dem kam, desto höher rang sich der Wohlstand hoch. Und interessanterweise wurden da auch die Steuern um ein Geringes niedriger. Nur Wenige sollten es aber ins bürgerliche Viertel oder gar zum Tempel schaffen.
Die Mutter war generell zu Haus. Wie alle anderen kümmerte sie sich um den Haushalt. Ob es einer Frau Spaß machte, hing wohl ganz davon ab, für wen sie es machte. Die Liebe zwischen Feodor und ihr war jung und glücklich.
Sie war sogar erfreut darüber, nicht so hart wie ihr Mann in einer stickigen Stahlschmiede zu arbeiten. Sie ging jeden Tag, auch mit ihrem Sohn, den sie sich an die Brust band, die Treppen runter auf den Marktplatz und untersuchte das massive Aufgebot an Obst und Gemüse akribisch. Schließlich traf sie immer wieder auf den gleichen Händler, der immer das Beste zu einem günstigen Preis bot: Fredo, ein alter Kauz, mochte man sagen, ein dürrer Senior mit glänzenden, braunen Augen und grauem Kinnbart. Sie kannten sich mittlerweile. “Aryona!” rief er immerzu mit seiner leicht brüchigen Stimme. Schließlich kam sie daher und examinierte auch seine Früchte und stellte fest, dass sie die frischesten und saubersten waren. Schon aus Routine verlangte Fredo zwei bis drei Münzen weniger von ihr. Nachdem sie den kleinen Einkauf in einen dicken Stoffbeutel packte, redeten sie meist noch über das Wetter, die Unverschämtheiten der Wachen oder den nächsten Händler und wie schlecht er feilschte.
Heute allerdings war das Thema wieder ein bestimmtes anderes, nämlich Aryonas Kind. “Die Nase, der Mund. Beide stammen ganz aus deinem hübschen Gesicht” betonte er oftmals. Jedesmal, wenn er den Säugling sanft streichelte, geriet er in ein überfreundliches Lächeln, das auch sie zum Schmunzeln brachte.
Nur am ersten Tag regte sich der Kleine, als Fredo ihn berührte. Der Alte sprach nur: “Das wird schon noch.” Heute schien dem Kind Fredo zu gefallen. Auch es grinste.
Aryona bedankte sich bei ihm für die nette Unterhaltung und bestieg die Treppen zurück in die Wohnung. Es war früh und die Sonne stand nicht besonders hoch. Die Luft war noch angenehm mild und deswegen genoss es die Mutter auch so sehr währenddessen draußen zu sein.
Sie trat in den dunklen Raum ein. Von draußen hörte man gedämpft das Treiben am Markt. Es war schon beinahe idyllisch.
Doch Aryona hatte vergessen Wasser zu holen. Rasch legte sie den Kleinen zu Bett. Er schlief schnell ein.
Die Mutter legte den Einkauf auf den Tisch, griff sich einen großen Eimer und hastete zum Brunnen, der am Nordwestrand des Marktplatzes stand. Glücklicherweise musste sie nicht warten, da sie ja spät dran war im Gegensatz zu den anderen Frauen, die ihr Wasser schon bei Sonnenaufgang holten.
Eigentlich gäbe es ja eine bessere Möglichkeit Wasser zu gewinnen. Ostian lag am Meer – hätte man das salzige Wasser kondensiert und aufgefangen, hätte man so die Menschen des Hafenviertels besser versorgen können. Sie müssten dann nicht den langen Weg den schweren Wassereimer zu sich schleppen. Aber der Tempel verwaltete die Stadt und dieser scheute alle Kosten und Mühen für andere. Egoistischer konnte ein Machtzentrum nicht sein und gerade deswegen verabscheute Aryona diese Institution. Feodor war da anderer Meinung, aber das stand ihm auch zu, denn schließlich war es der Tempel, der ihn und seine Familie belohnte.
Aryona versank in Gedanken, als sie die Leine mit dem Eimer in die Tiefe ließ. Es hallte laut aus dem Loch heraus, als der Eimer im Wasser landete. Die Frau wurde aus ihren Gedanken gerissen und zog den schweren Eimer hoch. Oben angelangt packte sie ihn mit beiden Händen und humpelte in Richtung Haus.
Plötzlich stieß sie eine Wache von links um. Versehentlich. Das Wasser ergoss sich aus dem Eimer quer über den Weg. Aryona lag in dieser dreckigen Pfütze. Die Wache hielt inne. Von hinten schallte es: “Komm schon! Lass liegen!” Der Mann schüttelte den Kopf und half Aryona auf die Beine. “Verzeiht.” brachte er nur heraus und hetzte weiter. Sie sagte nichts. Der da war ein schmächtiger Wachmann, jedenfalls nicht so muskulös wie die Anderen. Er war sogar höflich. Die Mutter mochte die Wachen nicht, denn sie wurden auch vom Tempel engagiert und in dieser Religion hieß es: “Der Mensch ist ein sündenreiches Wesen, das die heilige Erde unserer Götter beschmutzt.” Viele nutzten dieses aus und behandelten die Menschen dementsprechend. Außer natürlich ihresgleichen. “Allesamt ehrenvolle Männer, die die Religion und ihre rechtschaffende Botschaft verkünden und aufrechterhalten.” - Nein, es waren allesamt Schwachköpfe, die die Religion und ihre rechtschaffende Botschaft aufrechterhielten, um die Armen auszunutzen.
Aryona musste wie Jeder mindestens einmal in der Woche in den Tempel gehen, war aber nicht sonderlich gläubig. Dabei verlangten die Priester Steuern in Form von Spenden für das heilige Land Nehrim. Niemand wusste genau wofür es letztendlich ausgegeben wurde, allerdings wurde dieses Geld keinesfalls für das Land gespendet.
Allenfalls war die Botschaft der Götter wahr, jedes einzelne Wort. Die Menschen sind tatsächlich ungeheuer sündenreich. Sie sind es, die sich selbst bekriegen und bestehlen und dabei die Natur verletzen. Wenn man als Mensch beschimpft wurde, dann mit einem Tiernamen. Eigentlich waren diese Wesen stolz und gut. Sie nutzten einander nicht aus und nahmen sich nur das von der Natur, was sie auch tatsächlich benötigten. Wenn sie Menschen belästigten, dann nur zur Wehr...
“Mensch” müsste eine Beschimpfung sein!
Die Oberhäupter des Tempels waren solche “Menschen”. Sie drehten diese wahre Botschaft zu ihren Gunsten um. Und wofür? - für Geld.
Ohne Geld war man in dieser Welt ein Nichts. Geld ist ein Universalmittel, sowohl zur Belohnung, als auch zur Unterdrückung. Das Machtzentrum Ostians nutzte Zweiteres mehr, um sich selbst zu bereichern. Geld machte glücklich und für die Bastarde in diesem prunkvollen Tempelpalast war es eine berauschende Droge, nach der sie süchtig waren.
Doch genauso sündenreich und verachtenswert waren die Menschen, die nur dasaßen und nichts unternahmen. Aus Angst.
Aryona versank wieder im Gedankenstrom und holte erneut Wasser, ohne an den tollpatschigen Wachmann zu denken.
Sie schleppte den schweren Eimer die Treppen auf das Plateau hinauf, auf dem die eine Häuserreihe, in der sie mit ihrer Familie wohnte, stand. Sie bemerkte nicht, dass die Leute sie anstarrten, weil sie so dreckig und verwahrlost aussah.
Die Frau verschwand hinter der Tür. Leise.
Der Sohn schlief noch. Sie stellte den Eimer neben den Herd und zog sich aus, um sich dann mit einem dünnen Stofflappen zu waschen. Sie warf die alte, schmutzige Kleidung auf einen Stuhl und zog sich neue über. Aryona war eine sehr schöne Frau.
Wenige Momente später wachte das Kind auf. Es schrie wie am Spieß. Kein Wunder, schließlich hatte es heute noch nichts zu Essen bekommen. Die Mutter wusste natürlich, was zu tun war und stillte ihr Kleines, das sie so sehr liebte. Fast eine Stunde saß sie so da und umklammerte ihren Säugling, der bei der Prozedur fast einschlief. Er schien den Geruch seiner Mutter sehr zu genießen.

Der Tag verging. Aryona legte das Kind auf das Bett und erledigte die Aufgaben im Haushalt. Sie aß einen von Fredos saftigen Äpfeln, während sie den staubigen Boden kehrte. Alles war aus Holz. Würde sie das Material zu oft mit Wasser behandeln, würde es schimmeln. Die Holzhäuser waren alt. Bald darauf putzte sie die Wand – ebenfalls mit einer Bürste.
Die Arbeit war schnell getan, da das Heim ja nicht sonderlich groß war.
Sie legte sich zu ihrem Kind aufs Bett. Eigentlich ging es ihr gut, zumindest solange sie nicht in Kontakt mit der Institution des Tempels kam. Anderen ging es viel schlechter, da deren Mann nicht für den Tempel arbeitete. Manche Leute, die auf der Straße im Drogenrausch herumlagen und vegetierten, waren ein triftiger Grund für eine Revolution. Doch wie sollte man revoltieren zusammen mit solchen Säcken? Man wollte sie ignorieren. Hauptsache war, dass man nicht selbst in dieses Elend hineinrutschte.
Aryona wollte sich nicht wieder mit solchen Themen auseinandersetzen. Sie schlief ein.

Es klopfte laut an der verschlossenen Tür. Die Mutter schreckte auf. Das Kind schlief seelenruhig weiter. “Wer ist da?” fragte sie. “Ich komme von der Arbeit, Aryona.” Sie öffnete die Tür. Feodor stand vor ihr. Die Beiden fielen sich in die Arme. Der Mann war schweißgebadet.
“War es anstrengend?” erkundigte sie sich.
“Es ist in Ordnung in der Schmiede, zwar stickig, aber der Beruf geht mir leicht von der Hand.” gab er zur Antwort und nahm einen großen Schluck Wasser aus dem Tonkrug.
“Du hattest viel Zeit zum Nachdenken. Hast du dir schon einen Namen für unseren Sohn ausgedacht? Wir müssen eine Geburtsurkunde für unseren Sohn erstellen lassen. Ohne Namen geht das schlecht, verstehst du.” sagte Feodor ruhig.
“Nun ja, es fällt mir sehr schwer. Ich finde, es ist zu früh für einen Namen. Der Kleine hat noch nicht mal seine Augen geöffnet. Er ist noch zu 'unbeschrieben', um ihm einen Namen zu geben”
Der Vater starrte seinen Sohn an und flüsterte: “Und ob er seine Augen öffnen kann.”
Aryona drehte sich um und geriet in tiefes Staunen.
Das kleine Kind glotzte an die Zimmerdecke und wackelte mit den Händen vor seinem Gesicht. Es hatte helle, grau-grüne Augen. Diese Farbe war schwer zu beschreiben. Es war ein Hellgrau mit einer leichten Grünstufe.
Die Mutter beugte sich über ihren Sohn. Die beiden starrten sich gegenseitig an. Sie hatte das Gefühl, dass das Kind in ihr tiefstes Inneres schaute. Der Kleine gluckste nach längerem Blickkontakt. Die Frau hob ihn hoch.
Dieser stechende Blick des Kindes war ihr dennoch nicht unheimlich. Er war nicht kalt oder gefühllos – im Gegenteil, seine Augen strahlten.
“Er ist etwas ganz Besonderes.” sprach die Mutter. Dem Vater verschlug es die Sprache. Er streichelte seinen Spross und wurde von seinem bloßen Lächeln in den Bann gezogen.
“Solche Augen habe ich noch nie in meinem ganzen Leben zu Gesicht bekommen.” sagte er fröhlich.
“Kennst du diesen Spruch? - Die Augen sind das Fenster zur Seele.” fragte Aryona.
“Unser Sohn muss demnach eine gewaltige Seele besitzen.”
“Ich hätte da einen Namen... Wie wäre es mit 'Seylon'?”
Feodor überlegte.
“Klingt nicht schlecht. Es hat etwas... Mystisches.”
Die Eltern waren sich also einig.
Zusammen saßen sie am Tisch und aßen zu Abend. Fredos Obst schmeckte gut und wurde vollkommen aufgezehrt.
Das Kind versank abermals in tiefen Schlaf an der Brust der Mutter. Es atmete still und langsam. Seylon fühlte sich geborgen bei seiner Mutter und seinem Vater. Sie bedeuteten ihm alles.